Als Amerika Barteks Traum zerstörte

In der Nacht zum 9. August 1969 ermordeten vier Mitglieder des Manson-Clans in Hollywood seinen Vater, Wojtek Frykowski. Bartek Frykowski über Manson, die Medien und Moral  ■ Von Clarissa Ruge und Anne Zielke

Ein paar Tage ist es erst her, da standen sie wieder vor seiner Tür. Sie waren aufdringlicher als ihre Glaubensbrüder in den Fußgängerzonen, die still darauf warten, daß ihnen ein Passant den Wachturm abnimmt. Bartek Frykowski liebt es, die Zeugen Jehovas in sein Wohnzimmer zu bitten und dann, Stück für Stück, ihren Glauben zu zerlegen. Als sie an jenem Nachmittag von Nächstenliebe sprachen, wurde Frykowskis polnischer Akzent auf einmal schwer: „Was macht ihr“, fragte er, „wenn vier Leute mit Messern in euer Haus eindringen. Sie machen viel Krach und brüllen. Möchtet ihr denen Gutes tun?“ Die Zeugen Jehovas irrten, als sie dachten, es wäre eine theoretische Frage:

„Wieviel Uhr ist es?“

„Rühr dich nicht, oder du bist tot.“

„Wer sind Sie?“

Der Mord geschah, als Bartek Frykowski noch glaubte, Amerika liege auf dem Mond. Doch selbst auf dem Mond schien es ein Postamt zu geben, denn ab und zu kamen Briefe in Lodz an. Darin erzählte Barteks Vater von der seltsamen Sprache der Amerikaner, von Apfelsinen und von den riesigen Wellen, die fremdartige Muscheln an die kalifornischen Strände spülen. Nie hätte Bartek geglaubt, daß diese Briefe eines Tages aufhören könnten. Was sollte schon passieren? Barteks Familie gehörte zu den reichsten in Polen. „Unberührbare“, flüsterten die Leute in Lodz, wenn sie von den wohlhabenden Textildruckern sprachen, und selbst die kommunistischen Funktionäre beschwerten sich nur hinter vorgehaltener Hand.

Unberührbar war auch Bartek, den ein Chauffeur morgens zur Schule brachte. Eines Tages zum Beispiel lauert er dem Hausmeister auf und beschießt ihn mit dem Luftgewehr, einfach so. Der Mann traut sich nicht, die Polizei zu rufen. „Ich lebte wie im Paradies“, lächelt Bartek. „Aber ich war auch immer allein. Du bist einsam, wenn du reich bist.“ Bald jedoch würde ein neues Leben für den Achtjährigen beginnen: Sein Vater wollte ihn zu sich nach Hollywood holen.

„Wer sind Sie?“

„Ich bin der Teufel. Ich bin hier, das Werk des Teufels zu verrichten.“

„Lassen Sie mich los!“

Am schlimmsten, sagt Frykowski, sei das Begräbnis gewesen, schlimmer noch als der Prozeß. Manchmal, wenn der 36jährige seine Kindheit beschreibt, redet er von sich in der dritten Person. Als wolle er die Geschichte eines anderen erzählen. „Er haßte es“, sagt Bartek. „Diese ganzen berühmten Schauspieler und Regisseure, die nur über ihre Geschäfte redeten. Es war ein verdammter Zirkus, eine Show. Und in diesem Moment bin ich erwachsen geworden.“

Roman Polanski erlebte das Begräbnis „wie eine geisterhafte Filmpremiere. Und die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl“, schreibt er in seiner Autobiographie, „daß Sharon und die anderen gar nicht tot waren, daß ich einen bösen Traum träumte und sie auf einmal zu mir hereintreten würden.“ Zwanzigtausend waren zum Begräbnis von Sharon Tate, Polanskis Schulfreund Wojtek Frykowski, Abigail Folger und Jay Sebring gekommen.

Die Zeitungen brachten täglich neue Spekulationen: Von Voodoo-Killern war die Rede, und sogar das seriöse Time Magazine schrieb über „Sex-, Drogen- und Hexenkulte..., genährt durch die Tatsache, daß Sharon und Polanski eine Schwäche für Hollywoods überspannteste Typen hegten“. Daß es eine Horde halbwüchsiger Hippies war, die Polanskis schwangere Frau, Barteks Vater und zwei Freunde ermordet hatten, ahnte zu diesem Zeitpunkt keiner.

Auf seine Fragen wird er nie eine Antwort finden

„Lassen Sie sie los! Sehen Sie denn nicht, daß sie schwanger ist?“

„Hinsetzen!“

„Was habt ihr mit uns vor?“

Es machte einfach keinen Sinn: Warum sollten Hippies in ein Haus einfallen und die Bewohner abschlachten? Hippies, die in einem Schulbus wohnten, zusammen sangen und gemeinsam Acid nahmen? Und warum wurden sie einem Mann so hörig, daß sie für ihn töteten? Solche Fragen quälen Bartek. Aber nur noch selten. Dann geht er in den Garten, hackt Holz, und wer sein Gesicht betrachtet, könnte meinen, er schlage auf seine Erinnerungen ein. Auf seine Fragen wird er niemals eine Antwort finden. Er hat es versucht, ist weit zurückgegangen, um eine Erklärung für das zu suchen, was passiert ist. „Kennst du“, fragt er und zündet sich eine Zigarette an, „kennst du die Geschichte von Manson und seiner Family?“

Charles Manson wurde am 12. November 1934 in Cincinatti geboren. Und weil seine Mutter selbst noch fast ein Kind war, suchte sie Halt bei immer neuen Männern. Der Alkohol half ihr, sie sofort wieder zu vergessen. Den Sohn steckte sie ins Pflegeheim. Bald darauf landete Charles in der Besserungsanstalt: Er hatte einen anderen Jungen mit einer Rasierklinge bedroht und vergewaltigt. Von da an wurde Manson immer wieder straffällig; Autodiebstähle, Kreditkartenbetrug und Zuhälterei. Allmählich wurde aus ihm ein Produkt des Gefängnissystems.

„Da er den größten Teil seines Erwachsenenlebens im Gefängnis verbracht hatte“, schrieb Timothy Leary, Psychologieprofessor und Hippie-Idol, der im Soledad-Gefängnis Mansons Zellennachbar war, „kannte er sich natürlich mit den Taktiken des Terrors, wie physische Bedrohung, emotionaler Zwang und symbolische Manipulation, bestens aus. Er war ein Soulfucker.“ Manson nutzte das ethische Vakuum aus, das die sechziger Jahre hinterließen. Ängste und Tabus waren abgebaut, und einige spirituelle Scharlatane versuchten diese Leere zu füllen.

Mansons Gerede von bedingungsloser Liebe und Selbstaufgabe fasziniert viele jugendliche Ausreißer, die sich 1967 und 1968 in San Franciscos Hippieviertel Haight Ashbury herumtreiben; junge Mädchen scharen sich um Manson, der mit Sex und LSD ihre Moralvorstellungen zerstört und sie von sich abhängig macht. So abhängig, daß sie für ihn töten. Bartek Frykowski ist sich sicher, daß Musik bei Manson ein wichtiger Faktor war. „Er ist ein Psychopath, der nur an Songs denkt. Vielleicht hätte er sein Leben lang am liebsten gesungen. Aber keiner wollte ihn hören. Und dann hat er angefangen zu morden.“

Was anfänglich wie eine Hippiekommune aussah, wurde bald zu dem, was das Life Magazin als „Die Sekte der Liebe und des Terrors“ beschrieb. Die Gewalt richtete sich zunächst gegen die Family-Mitglieder selbst. Manson zwang seine Mädchen, sich vor fremden Besuchern auszuziehen und sie mit dem Mund zu befriedigen. Mit den Babys der Family durften nur Männer sprechen; Manson war überzeugt, daß Frauen die kindliche Unschuld verderben würden. Er haßte Frauen. Manson steckte seine Anhänger mit seiner Begeisterung für Messer an. „Sie haben es geliebt, über Messer und übers Töten zu reden, immer wieder“, berichtet Ed Sanders. Der Autor und Rockmusiker hat kurz nach den Morden ein Buch über den Fall Manson geschrieben. „Vielleicht hatten die Wiederholungen etwas Hypnotisierendes. Als sie dann tatsächlich anfingen zu töten, war das eine Selffulfilling prophecy, glaubt er.

„Was habt ihr mit uns vor?“

„Ihr werdet alle sterben.“

„Bitte, töte mich nicht, bitte, töte mich nicht! Ich will nicht sterben!“

„Paß auf, Miststück! Mir ist das egal, ob du ein Kind kriegst. Mach dich lieber fertig.“

Er wünscht ihm den Tod, diesem Helden der Medien

Die Zeugen Jehovas werden ihn nie verstehen können, sagt Bartek Frykowski und greift nach einer neuen Zigarette. Und sie werden auch nicht kapieren, daß er nicht nur wegen Manson leidet, dieses „Straßenpunks mit einem Messer“, dem er den Tod wünscht und der noch immer im Gefängnis sitzt und Interviews gibt. „Die Frage ist nicht“, sagt Frykowski, „was ich über Manson denke. Entscheidend ist, was ich über die Medien denke.“ Hätten die Manson nicht zu einem Helden gemacht, „dann wäre er ein Nichts“. Manson rede, und es gebe keinen Zensor: „Er brüstet sich, ein Killer zu sein, und die Medien wiederholen es einfach.“ Immer neue Manson-Stories, das wohlige Gruseln der Zeitungsleser, Seiten im Internet und Bands wie Guns'N'Roses, die den Manson-Song „Look at your game, girl“ gecovert haben – all das hat aus Manson einen Helden gemacht: „Er ist jetzt das, was er immer sein wollte: ein Popstar.“

Am Abend des 8. August 1969 zieht Charles Manson seine Anhängerin Susan Atkins beiseite: „Die Zeit für Helter Skelter ist gekommen.“ Als Susan Atkins, Patricia Krenwinkel, Charles Tex Watson und Linda Kasabian gegen 0:15 Uhr über den Zaun der Polanski-Villa am Ciele Drive 10050 klettern, ist es ruhig im Haus. Wojtek Frykowski schläft auf der Wohnzimmercouch, Abigail Folger liegt lesend im Bett, Sharon Tate und Jay Sebring sind in Sharons Schlafzimmer und plaudern. Tex Watson richtet seine Pistole zuerst auf Wojtek Frykowski. Watson sagt im Prozeß ein Jahr später, daß Wojtek jäh erwachte und murmelte: „Wer sind Sie?“ „Ich bin der Teufel. Ich bin hier, das Werk des Teufels zu verrichten.“ Währenddessen holen die Frauen die restlichen Bewohner des Hauses ins Wohnzimmer. Sie werden mit einem Nylonseil gefesselt. „Was habt ihr mit uns vor?“ – „Ihr werdet alle sterben.“ Als Jay Sebring sich wehrt, fällt der erste Schuß. 30 Minuten später sind die vier Körper von insgesamt 102 Stichwunden durchbohrt, alle 20 Sekunden ein Stich. „Wir wollten sie noch alle verstümmeln, aber wir hatten keine Gelegenheit dazu“, bedauert Susan Atkins vor ihrem Richter. Bevor Mansons Jünger verschwinden, taucht sie ein Tuch in Sharon Tates Wunden und schreibt „Pig“ auf den Boden. Die Täter hinterlassen jene Fingerabdrücke, die sie später in die Todeszelle bringen.

Bartek Frykowski kämpft bis heute um sein Schmerzensgeld. Seit drei Jahren arbeitet er in Deutschland als Kameramann. Er hat sich in ein bayerisches Dorf zurückgezogen. Doch auch hier begegnet er Manson. Neulich zog ihn sein zehnjähriger Sohn Serge vor den Fernseher: Schau mal, Papa, da ist wieder das Arschloch Manson! Vor kurzem war Frykowski mit seinem italienischen Cousin in München einkaufen. Vor einem Geschäft hingen T-Shirts. Auf ihnen war Mansons Gesicht mit dem Hakenkreuz auf der Nasenwurzel abgebildet, darunter stand: „Charlie doesn't surf“. Der Cousin brüllte den Verkäufer an: „Weißt du überhaupt, was du da verkaufst?“ Der Mann blieb gelassen: „Klar weiß ich das, ist ein gutes Geschäft.“

Warum junge Leute auf Manson-Devotionalien stehen, kann sich Bartek Frykowski nur so erklären: „Die finden Manson cool, weil er sich einen Teufel um die Gesellschaft geschert hat.“ Die Beweisfotos der Polizei, vermutet er, haben sie nie gesehen.