■ Warum verstehen die Westdeutschen die Ostdeutschen nicht? Die Geschichte eines endlosen Mißverständnisses
: Der Ossi, das unbekannte Wesen

Der erste Grund, warum „die“ Westdeutschen „die“ Ostdeutschen oft nicht verstehen, ist simpel: Sie merken nicht, daß sie sie nicht verstehen. Vielmehr meinen sie, die Ostdeutschen besser zu begreifen als die sich selbst. Der zweite Grund ist nicht minder einfach: Real existierenden Ostdeutschen begegnen sie fast nie und haben deshalb auch keine Chance, ihre Urteile zu korrigieren.

Der dritte Grund jedoch ist schwerwiegenderer Natur: Tatsächlich haben sich während der vierzigjährigen Trennung erhebliche Unterschiede in der Alltagskultur zwischen West- und Ostdeutschland herausgebildet. Fatal nur, daß aus ideologischen Gründen („Es wächst zusammen, was zusammengehört“) immer so getan werden muß, als gäbe es diese Differenzen nicht.

Früher, zu DDR-Zeiten, waren die Ostdeutschen „die Brüder und Schwestern“ hinter der Mauer, von denen man nichts wußte und im übrigen auch nichts Genaues wissen wollte. Als die Mauer fiel, verwandelten sie sich für kurze Zeit in lebende Symbole der Freiheit und Beglückung, die man gönnerhaft gerührt umarmen und großherzig beglückwünschen konnte. Danach sollten sie aber gefälligst ihr Glück auch nutzen und schleunigst so werden wie wir. Als sie das nicht taten, wurden sie zu Ossis gemacht.

Beim Begriff des „Ossi“ handelt es sich um eine Konstruktion, die sich aus den wenigen Wissensbrocken, die Westdeutsche über die DDR haben, ableitet. In erster Linie speist sie sich aus lauter gruseliger Phantasie über das Leben in einer Diktatur. Das geht etwa so: Weil es zu DDR-Zeiten angeblich sehr riskant war, renitent zu sein, ist der Ossi vorwiegend brav. Und weil in der DDR angeblich nichts zu haben war, ist der Ossi – je nach Gusto – genügsam oder gierig.

Der Ressentiments kein Ende: Weil es zu DDR-Zeiten angeblich nur Trabis gab, kann der Ossi nicht Auto fahren und kommt mit den vielen neuen Pferdestärken nicht zurecht. Weil man in DDR-Betrieben angeblich nicht gekündigt werden konnte, kann der Ossi nicht arbeiten. Vor allem aber hält sich hartnäckig das Gerücht, daß jene früheren DDR-Bewohner, die nicht aus politischen Gründen verfolgt worden waren, zutiefst verdächtig sein müssen.

All diese Annahmen sind von jeglichem Wissen über das tatsächliche Leben in der DDR ungetrübt. Sie verkennen zum Beispiel die Erkenntnis Ernst Fraenkels von der Diktatur als „Doppelstaat“: Im Alltag herrscht für über neunzig Prozent der Bevölkerung in beinahe allen Entscheidungen ein Staat, der sich in nichts von seinem demokratischen Gegenstück unterscheidet. Nur ausnahmsweise und auch nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung kommt der diktatorische Staat zum Vorschein.

Was nicht in dieses Raster paßt, wird flugs zur „Ausnahme von der Regel“ erklärt; umgekehrt müssen Episoden, die das vorgefaßte Bild vom „Ossi“ bestätigen, als Beweise für dessen Gültigkeit herhalten.

Woran das liegt, ist strittig. Die meisten Westdeutschen fahren eher nach Amsterdam, Paris oder Gomera als nach Ostdeutschland. Weshalb auch? Sie sind nicht neugierig, weil sie ja eh schon alles von denen da „drüben“ wissen.

Genug der Klage, sprechen wir über die tatsächlichen Unterschiede in der Alltagskultur. Das beginnt mit der Sprache, wo man beispielsweise erst nach einiger Zeit merkt, daß „Befindlichkeiten“ in Ostdeutschland dem entspricht, was man in Westdeutschland mit „Empfindlichkeiten“ umschreibt. Es geht weiter mit dem Händeschütteln, das im Westen aus der Mode gekommen ist, in Ostdeutschland aber noch Teil der selbstverständlichen Höflichkeit ist. Wenn Westdeutsche dann mit einem fröhlichen „Hallo“ an zur Begrüßung ausgestreckten Händen vorbeimarschieren, wirken sie so überheblich, daß man sich schnell von ihnen zurückzieht.

Unterschiede und damit Anlässe für Mißverständnisse finden sich aber vor allem in der Art zu denken: Wessis haben gelernt, sich selbst und ihre Welt mit psychoanalytischen und mikrosoziologischen Modellen wahrzunehmen. Verdrängung, Rolle, Außenseiter sind selbstverständliche Ordnungskategorien. Ossis schauen mehr nach den großen Interessen und weniger nach der eigenen Befindlichkeit oder der Stellung in der Gruppe.

Auch in der Interpretation des Geschlechterverhältnisses folgen Westdeutsche ganz anderen, feministisch geprägten Wahrnehmungsmustern. Die Beziehung zum anderen Geschlecht kommt ihnen meist als eines voller Fallen und Widersprüche vor. Man will attraktiv, aber nicht sexistisch, verbunden, aber nicht abhängig, emanzipiert, doch nicht allein sein. In Ostdeutschland scheint das alles nicht so kompliziert. Beide Geschlechter stehen ihren Mann und begegnen sich unbefangen in einer harmlosen, auf die gemeinsame Sache ausgerichteten Beziehung. Sexistische Sprüche sind kein Problem, weil sie spaßig gemeint und verstanden werden. Wie man sich vorstellen kann, wird es richtig kompliziert, wenn sich beide Kulturen auf diesem umkämpften Feld begegnen.

Die häufigsten Mißverständnisse rühren daher, daß die Westdeutschen insgesamt sehr viel amerikanischer geworden sind als die Ostdeutschen. Die Westdeutschen haben auf diese Weise die hohe Kunst der lockeren und optimistischen Selbstdarstellung so sehr kultiviert, daß sie zutiefst irritiert sind, wenn sie auf die eher bescheidenen Ostdeutschen treffen.

Was für Ostdeutsche selbstverständliche Zurückhaltung ist, erscheint Westdeutschen leicht als Mißtrauen. Umgekehrt erleben viele Ostdeutsche die beständige gute Laune, die überbordende Selbstdarstellung und die nicht enden wollende Freundlichkeit der Westdeutschen als falsch und übergriffig. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Ostdeutsche mich ähnlich anschauen wie ich früher die Amerikaner. Deren „Fantastic“ und „I am so happy to see you“ haben mich skeptisch gemacht.

Solche Mißverständnisse sind, wenn man sie akzeptiert und nicht negiert, eine Chance zur Verständigung. Hat man dies erkannt, kann man die andere Seite so sein lassen, wie sie ist, und trotzdem miteinander auskommen. Wolf Wagner