Jelzins dritte Schlacht um Grosny

■ Vormarsch der russischen Truppen ins Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt durch Minen aufgehalten. Keine Angaben über zivile Opfer. Rebellenführer will Präsident Jelzin die heutige Amtseinführung „versauen“

Moskau (taz) – Trotz massiven Einsatzes von Panzern und Kampfhubschraubern haben die Freischärler weiterhin den größten Teil der tschetschenischen Hauptstadt unter ihrer Kontrolle. Aufgehalten wird der Vormarsch der Russen zum Stadtzentrum vor allem durch die überall verteilten Minen. Nach Angaben russischer Militärs ist es ihnen gestern aber immerhin gelungen, den Blockadering um das Gebäude der moskautreuen Regierung zu sprengen. Die Rebellen meldeten dagegen, einen Flügel des Regierungsgebäudes eingenommen zu haben. Außerdem hätten sie ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen. Insgesamt verloren die Russen in den letzten beiden Tagen nach eigener Schätzung über siebzig Mann, weit über dreihundert wurden verletzt. Die Verluste der Gegenseite bezifferten die Russen auf zweihundert. Von Opfern unter der Zivilbevölkerung ist keine Rede. Die russischen Truppen hatten Grosny im Frühjahr 1995 nach monatelangen Kämpfen um jedes Haus erobert. Im März dieses Jahres hatten die Rebellen die Hauptstadt erneut angegriffen.

Die Tschetschenen behaupten, mittlerweile befänden sich 3.000 Widerstandskämpfer im Zentrum, die Russen wollen deren Nachschubwege allerdings noch rechtzeitig gekappt haben. Der Moskauer Statthalter Doku Sawgajew hatte sich bereits vorgestern in die Obhut des russischen Stabs außerhalb von Grosny geflüchtet. Von dort aus gab er über den Sender Echo Moskau Entwarnung: Regierung und russisches Militär hätten die Lage voll im Griff, lediglich gelegentliche Scharmützel habe es gegeben.

Offenkundig sind Einheiten der mit Moskau verbündeten tschetschenischen Miliz zu den Freischärlern übergelaufen und haben dadurch die russische Taktik konterkariert, den Konflikt der Tschetschenen untereinander weiter zu schüren. Der russische Regierungschef Viktor Tschernomyrdin sprach sich gestern nachmittag für „härteste Maßnahmen gegen Terroristen und Verbrecher“ in Tschetschenien aus. Zugleich lehnte er die Anwendung großangelegter Kampfhandlungen durch die Russen jedoch ab: „Man darf nicht zulassen, daß die Situation in Tschetschenien in eine afghanische Variante übergleitet.“ Der Premier machte den Separatistenchef Selimchan Jandarbijew für den Angriff der Rebellen verantwortlich. Daher solle man andere Partner für Friedensgespräche im Rebellenlager suchen. Dem widersprach indirekt der demokratische Duma-Abgeordnete Anatoli Schabad: Der Angriff habe gezeigt, daß die Rebellen unter Jandarbijew eben doch noch nicht geschlagen seien.

Die Tschetschenen haben den Zeitpunkt für ihr erneutes Vordringen nach Grosny bewußt gewählt, um Präsident Jelzin die heute stattfindende Einführung in seine zweite Amtszeit zu verpatzen. Immerhin gewann Jelzin die Wahlen nicht zuletzt mit dem Versprechen, den Krieg zu beenden. „Es stellt sich heraus, daß er alle betrogen hat“, so ein Kommandeur der Tschetschenen. „Jetzt wollen wir ihm seine Amtseinführung und seinen Urlaub versauen und seinen Gästen den Krieg in Erinnerung rufen. Tschetschenien ist nicht mit Gewalt zu nehmen.“

Klaus-Helge Donath Seiten 9 und 12