Ein Provinzheini zieht nun den Karren

„Keiner, der seinen Arsch nachgetragen bekommen muß“: Stefan Kuntz mag nach den langen Wanderjahren durch die grauen Niederungen der Bundesliga nun doch wieder in der Provinz spielen  ■ Aus Bielefeld Jörg Winterfeldt

Wenn der Nationalstürmer Stefan Kuntz sein Idealbild einer Fußballmannschaft zeichnen soll, ist die Welt nur noch Kaiserslautern, so wie es 1991 war. Von der „Harmonie“ schwärmt er, der „Kameradschaft“ und dem „Geist in der Mannschaft mit zehn Pfälzern“. Kuntz, der nicht wie die meisten Branchenkollegen die Anzahl seiner Bundesligaspiele und -tore auswendig herunterbeten kann oder wie der neue Sturmpartner Walter in Bielefeld sogar beinahe jede einzelne Torsituation vor das geistige Auge zu zaubern vermag, jener Kuntz erinnert sich detailverliebt an den vorletzten Spieltag jener Saison, als sein Klub Kaiserslautern mit einem Sieg daheim gegen Borussia Mönchengladbach die Meisterkür besiegeln konnte.

Der Kraftraum am Betzenberg war ausgeräumt, hinten an die Wand hatte ein besonders Eiliger bereits ein Kaiserslautern-Poster mit dem Zusatz „Deutscher Meister 1991“ gehängt, ein Party-Service hatte kalte Buffett-Platten serviert und alles, was fehlte, war der erfolgreiche Kick der Mannschaft. Nur wollte an diesem Samstagnachmittag der Gast aus Gladbach nicht mitspielen oder vielmehr zu gut. Die Roten Teufel unterlagen 2:3 zu Hause, der gelbgesperrte Kuntz saß oben co-kommentierend in der Fernsehkabine, irgendwann nur noch unsichtbar für das Publikum beredt schweigend, und als er schließlich herunterkam zu den Kameraden, hatte einer schon wieder ganz schell das Optimismus-Plakat entfernt. „Alle“, sagt Kuntz, „haben wir da nur so rumgestanden wie die Muffelmänner.“

Schließlich habe Markus Schupp vorgeschlagen, das triste Beisammensein wenigstens in eine gemütlichere Atmosphäre zu verlegen, und bot sein Haus in Rodenbach, vor den Toren der Stadt, an. „Nicht einer“, schwärmt Kuntz, „ist damals nicht mitgekommen – Verabredungen hin oder her.“ Alte Platten wurden aufgelegt, „ein bißchen geswingt“ und einige Gläser Bier getrunken. Mitten in der Nacht dann war die Stimmung gut und die Mannschaft plötzlich einig: „Dann werden wir eben in Köln deutscher Meister – von da ab hat keiner mehr dran gezweifelt.“ 6:2 haben sie kurzerhand am letzen Spieltag in der Fremde gewonnen. In Kaiserslautern waren sie ihrer Zeit voraus. Lange bevor ein Hans-Hubert Vogts seinen ersten Titel als Bundestrainer sicherte, war in der Pfalz die Mannschaft der Star. „Ein großer Teil der Weggänge“, belegt Kuntz seine These, „ist nach Kaiserslautern leistungsmäßig in den Keller gegangen.“ Als die Führung dilettantisch der Mannschaft nach und nach die Identität abhanden kommen ließ und im letzten Jahr schließlich versuchte, die Leistungsträger Kuntz und Sforza gewinnbringend zu verscherbeln und durch Zweitligaspieler adäquat zu ersetzen, ist der Verein zur Trauer einer ganzen Region und nicht zuletzt von Kuntz dort gelandet, wo die Neuzugänge sich bestens auskannten.

Obwohl der Stürmer stets betont, daß er „unbedingt einmal ins Ausland wollte“ und daher bei Beșiktaș Istanbul gelandet ist, spricht vieles für verminderte Freiwilligkeit beim Wechsel. Im Winter etwa, bereits nach einem halben Jahr in der Fremde, wäre Kuntz nur allzu gerne wieder an den Betzenberg zurückgekommen, „um zu helfen, den Abstieg zu vermeiden“. Aber obwohl er dem Präsidium deutlich die nötige Diskretion bei einem möglichen Transfer ans Herz gelegt hate, schickten die Pfälzer wenig diplomatisch kurzerhand ein Fax an Beșiktaș. Gegen die langfristige Zusicherung der Manager- oder einer ähnlichen Position und einen finanziellen Ausgleich, zu dem der Kuntz-Anwalt dem Klub mehrere Modelle schriftlich unterbreitete, hätte der Transfer trotzdem vollzogen werden können, glaubt Kuntz. Kaiserslautern allerdings hat statt dessen Jürgen Rische für 1,2 Millionen aus Leipzig und den Brasilianer Arilson für 4,5 Millionen Mark geholt. „Davon“, zürnt Kuntz, „hätten sie mich drei Jahre lang bezahlen können.“

Auch daß er nun bereits nach einem Jahr im Ausland wieder in der Heimat gelandet ist, zeugt von Kuntz' Bodenständigkeit. Offiziell ist es die schwere Krankheit des Schwiegervates sowie die sichere Vertragsgestaltung in Bielefeld, die den Rückzug motiviert haben. Drei Jahre lang zahlt der Aufsteiger etwa 1,2 Millionen Mark jährlich. In Istanbul hätte er mehr verdient, aber der Vertrag lief nur noch ein Jahr. Auch die Perspektiven wären weniger klar gewesen. Jetzt, nach der guten Europameisterschaft, sagt Kuntz, habe er seinen Marktwert nutzen wollen.

Neben dem finanziellen Anreiz scheint das Istanbul-Abenteuer jedoch auch eine Frage des Stolzes gewesen zu sein. Kuntz war es leid, als Profi zu gelten, „der es allenfalls zur Regionalgröße brachte“, wie der Spiegel 1991 despektierlich in einer Randbemerkung eines Porträts über Bruno Labbadia schrieb. Eine Geschichte, erinnert Kuntz sich, über einen, der „ausgezogen sei, weil er nicht der Provinzheini bleiben wollte“. Inzwischen, zweimal Torschützenkönig, je einmal Fußballer des Jahres, deutscher Meister, Pokalsieger und Europameister, ist Stefan Kuntz darüber hinweg, auch wenn sich seine Karriere in Bochum, Uerdingen und Kaiserslautern in der „Puppenstube der Bundesliga“ (Spiegel) entwickelte. Er spielte immer im Schatten der Bergwerke und Vorgartenzwerge, nie in der Glamourwelt, die die Bundesliga auch sein kann. In Kaiserslautern noch hatte Kuntz Unmut über die arroganten Münchner Bayern geäußert, die den Eindruck streuten, „als seien wir in der Pfalz unterbelichtet“.

Auf der Flucht aus dem provinziellen Mief ist der weltbürgerlicher gewordene Kuntz in Bielefeld nun doch wieder bei einem Klub gelandet, den der Manager Lamm höchstselbst als „graue Maus“ bezeichnet. Da will Kuntz nun zwar „den Karren ziehen“, gelockt aber auch von der Aussicht, nicht alle Last als alleiniger Messias auf seinen Schultern tragen zu müssen, sondern auch die erfahrenen Stein, von Heesen, Walter neben sich wissend. Seine Rolle sieht er zuvorderst in der Verbreitung von Respekt, wie er das erfolgreich im Kroatien-Spiel bei der EM getan hat. Zur Halbzeit eingewechselt, die Ärmel hochgekrempelt, hatte er da dem maliziös einsteigenden Gegner gezeigt, „entweder müßt ihr auch einstecken, oder ihr hört mit dem Treten auf“. Nun will er den Bundesliga-Kontrahenten beweisen, daß „man mit uns nicht den Molli machen kann – wir sind nicht die braven Jungs von der Alm, die man mal 'n bißchen verscheißern kann“. Nachdem er in der Nationalmannschaft mit den Glitzer- Kickern aus München harmonisch-erfolgreiche Tage verbracht hat, glaubt Kuntz inzwischen: „Jetzt, wo ich die kenn', käme ich auch da zurecht.“ Dennoch „ist vielleicht in einer kleinen Stadt die Kameradschaft größer“. Die Provinz scheint ihren beleidigenden Charakter vollends verloren zu haben. Zudem fällt es ihm nicht schwer, auf gewisse Annehmlichkeiten des Ruhmes zu verzichten. „Ich bin keiner, der seinen Arsch nachgetragen bekommen muß, ich putz' auch meine Schuhe gern selbst.“ Und gemessen an Kaiserslautern schließlich sei „das hier doch schon 'ne richtig große Stadt“.