Böswilliges Mißverstehen

Kritik – und was sie nicht ist: Anmerkungen zu Michael Walzers neuem Buch und seiner Rezeption durch Sibylle Tönnies  ■ Von Skadi Krause und Karsten Malowitz

Hartnäckige Vorurteile werfen ihre Schatten oft so weit voraus, daß sie ihr Objekt mitunter vollständig verdunkeln. Wer einen Blick in Sibylle Tönnies' Kritik des neuesten Buches von Michael Walzer wirft, wird diese Erfahrung bestätigt finden. So weiß die Verfasserin von einem „großen relativistischen Einbruch“ zu berichten, für den „die Postmoderne“ und „die Kommunitaristen“ verantwortlich sein sollen. Demnach „sind alle Gesellschaftsauffassungen gleich gut oder schlecht, aber jeder soll seine für die beste halten dürfen“, eine Ansicht, die auch Michael Walzer vertrete.

Nun trifft es zwar zu, daß das Problem des moralischen Relativismus (wieder) verstärkt diskutiert wird, aber anders als Frau Tönnies suggeriert, hat dies mit normativer Beliebigkeit nichts zu tun. Als ob einen relativistischen Standpunkt einzunehmen tatsächlich hieße, auf jegliches moralische Urteil zu verzichten! Wäre dem wirklich so, dann wäre der Relativismus in der Tat, wie Bernard Williams es einmal formuliert hat, „wohl die absurdeste Anschauung, die innerhalb des an Absurditäten nicht gerade armen Gebiets der Moralphilosophie je vertreten worden ist“.

Sibylle Tönnies zufolge verlangt Michael Walzer, daß „die Völker ihre Werte selbst bestimmen“ sollen, es dabei aber „demokratisch zugehen“ müsse. Dem zentralen Problem aber, „daß manche Völker entschlossen sind, ohne Demokratie selig zu werden“, stelle sich Walzer nicht. Sicher: Das Provozierende an Walzers Standpunkt besteht nicht zuletzt in der Konsequenz, mit der er für das Recht der Völker auf politische Selbstbestimmung auch jenseits des uns vertrauten demokratischen Ideals eintritt: „Selbstbestimmung ist ein Wert, den ich, sofern ich ihn überhaupt verteidige, auch dann verteidigen muß, wenn ich glaube, daß häufig verabscheuungswürdige oder unrechte Entscheidungen getroffen werden.“ Es hieße aber diese Position böswillig mißverstehen, wollte man in ihr tatsächlich einen Freibrief für die systematische Unterdrückung von ethnischen oder politischen Minderheiten sehen. Das ist mitnichten der Fall, denn verschiedene Moralauffassungen in ihrer Divergenz anzuerkennen, „schließt nicht jede kritische Einstellung zu ihnen aus; auch muß uns das nicht davon abhalten, die Meinungen, auf denen sie beruhen, in Frage zu stellen“. Walzer zufolge sollten wir dabei nur nicht den Fehler machen, das Ideal der Demokratie vorschnell gegen das Recht der Völker auf politische Selbstbestimmung auszuspielen und letzteres über unserer Kritik zu vernachlässigen.

Kritik ist immer möglich. „Keine von Menschen geschaffene Moral kann“, so Walzer, „ausschließlich den Interessen der Unterdrücker dienen.“ Aussicht auf Erfolg kann die Praxis der Gesellschaftskritik ihm zufolge aber überhaupt nur dann haben, wenn die Maßstäbe der Kritik zu einem gewissen Grad im moralischen Haushalt der Gesellschaft, um deren Kritik es geht, selbst verankert sind – und sei es zunächst nur im Bereich der politischen Rhetorik. Denn gerade „der Widerspruch zwischen den praktischen Ergebnissen und ihrer begrifflichen Grundlage“ ist in Walzers Augen nicht nur der „gewöhnlichste Anlaß für Kritik“, sondern auch der aussichtsreichste.

Der von ihm propagierte Vorrang des Lokalen vor dem Universalen darf nicht mißverstanden werden. Walzer leugnet nicht, daß es so etwas wie universal gültige moralische Prinzipien gibt, er ist nur der Meinung, daß wir diese besser verstehen, wenn wir sie als glückliche interkulturelle Koinzidenzen betrachten, anstatt ihre Gültigkeit mit Hilfe vernünftiger, die Besonderheit aller Lebensformen transzendierender Gründe beweisen zu wollen. Das heißt nicht, daß es nicht innerhalb der verschiedenen Lebensformen äußerst wirksame und gute Gründe für die betreffenden Prinzipien geben kann. Es heißt nur, daß die Rechtfertigung derselben etwas ist, was sich innerhalb von Lebensformen und den in ihnen akzeptierten Sprachspielen vollziehen sollte, und daß die rechtfertigende Funktion von Gründen letzten Endes nicht auf der logischen (oder sprachlichen) Struktur einer allen Menschen gemeinsamen Vernunft beruht, sondern daß sie ihre Akzeptabilität der Einbettung in die dichtgewebten Netze gemeinsamer Lebensformen und geteilter sozialer Bedeutungen verdanken, aus denen sie nicht herausreflektiert werden können, ohne ihre normative Kraft einzubüßen. Aber diese sozialen Bedeutungen „gibt es nicht einfach, und sie werden auch nicht ein für allemal festgelegt. Infolge innerer Spannungen und äußerer Vorbilder ändern sich die Bedeutungen mit der Zeit; und folglich sind sie stets Gegenstand von Auseinandersetzungen.“

In seinem Buch macht Walzer dies am Prinzip der Chancengleichheit fest. Er demonstriert, daß das genannte Prinzip nur dann als Maßstab einer gerechten Verteilung gesellschaftlicher Güter taugt, wenn diejenigen, um deren Chancen es geht, in ihrer Beurteilung dessen, was es heißt, ein gelingendes Leben zu leben, weitestgehend übereinstimmen. So ist Chancengleichheit nach Walzer für solche Menschen ein praktikabler Maßstab, die ihr Leben nach dem Muster eines Projekts oder einer Laufbahn verstehen, das man planen und gestalten kann.

Andere Konzepte wie zum Beispiel „ein göttlich verfügtes oder vorherbestimmtes Leben, in dem der Plan von Gott und nicht von mir stammt, ich jedoch dessen Willen gehorche, soweit ich ihn zu erkennen vermag“, werden dagegen von dem Prinzip der Chancengleichheit nicht in gleicher Weise berücksichtigt. Die Tatsache, daß die Rationalität der Begründung moralischer Prinzipien an das Selbstverständnis der Angehörigen verschiedener Lebensformen rückgekoppelt bleibt, schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, daß Gesellschaften und Lebensformen neue, ihnen bisher nicht geläufige Sprachspiele und moralische Standards übernehmen und in ihre eigenen kulturellen Muster integrieren können.

Interkultureller Austausch ist auch Walzer zufolge nicht nur möglich, sondern nötig: „Wir können voneinander lernen, auch wenn die gelernte Lektion nicht genau dem entspricht, was der andere uns lehren wollte.“ Aber, und das ist der für Walzer entscheidende Punkt, wir liegen falsch, wenn wir glauben, daß moralische Lernprozesse unabhängig von kulturellen Selbstverständigungsprozessen vorgestellt werden können. Berücksichtigen wir dies, dann kann eine Nation „für eine andere durchaus ein ,Licht‘ sein“.

Die Vermutung, „eine konsequent relativistische Kulturkreislehre“ könnte sich Michael Walzer „überhaupt nicht vorstellen“, kann nur hegen, wer sich falsche Vorstellungen davon macht, was diese relativistische Kulturkreislehre denn eigentlich besagt. Walzer jedenfalls geht es um den Versuch, die Beschaffenheit moralischer Welten angemessener zu beschreiben, als dies in den meisten zeitgenössischen Ethiken der Fall ist. Demgegenüber wie Frau Tönnies zu behaupten, Walzer stoße gerade auf das, „was Herder mit den ,Stimmen der Völker‘ meinte“, heißt die Uhr um knapp zwei Jahrhunderte philosophischer Argumentation zurückdrehen.