Extrem sanft

■ John Cale zelebrierte in der Fabrik genüßlich seine Vergangenheit

Die Vergangenheit ist bei John Cale eine recht offene Angelegenheit. Seit geraumer Zeit verbindet er während seiner Konzerte die verschiedenen musikalischen Bausteine der Biographie zu immer neuen Kombinationen und arbeitet so – straight forward into the past – neue Aspekte alter Hits heraus. Erstaunlich, mit welcher Lässigkeit sich der Artist dieser Aufgabe stellt. John Cale, durchtrainiert und sonnenbankgebräunt wie Bruce Willis, zelebriert seine Auftritte als Spaziergänge durch die eigene Geschichte. Der Künstler und sein Publikum kehren erholt zurück – und sind dabei um einige Erkenntnisse reicher.

Zum Beispiel der, daß Songs vom letzten großen Album, dem kruden Konzept-Werk Last Day on Earth, Pop-Qualitäten aufweisen. Zumindest legte die zuckersüße Version von „Broken Hearts“, die John Cale am Sonntag in der Fabrik präsentierte, diesen Gedanken nahe. Wobei sich hier die Frage stellte, ob nicht einfach die in nächster Nähe gespielten „Antarctice Starts Here“ (Klassiker) und „Do Not Go Gentle Into That Good Night“ (Klassiker von morgen) ihren strahlenden Glanz über die eigentlich Song-Länge hinaus verbreiteten. Natürlich hatten auch der Slide-Gitarrist B.J. Cole und das Soldier String Quartet, Cales favorisierte Begleitung, ihren Anteil daran, daß hier zu „U“ wurde, was einst „E“ gewesen war – oder umgekehrt.

Die Verbeugung vor den Toten ist in den Darbietungen des 54jährigen schon Ritual. Freilich eines, das ohne Pathos exerziert wird. Sprich: Cale vermied – wie er während des ganzen Konzerts auf warme Worte verzichtete – emotional überschäumende Ankündigungen. Irgendwann reihte er wortlos „Style It Takes“ vom Warhol–Requiem Songs For Drella in die Song-Sammlung ein, zuvor hatte er schon „Some Friends“ für seinen verstorbenen Freund Sterling Morrison gespielt. Dies in einem Einschub mit Stücken vom Ende September erscheinenden neuen Album – und mit dem Cajun-Knaller „Dancing Undercover“ oder dem flirrend leichten „Gatorville“, die ebenfalls in dieser verkaufsfördernden Vorschau zu hören waren, leuchtete sich der Mann noch einmal als pop-kompatiblen Songwriter aus.

Nahe dem Ende wurde „Heartbreak Hotel“ zur Aufführung gebracht. Es schlierte gespenstisch, verhinderte aber nicht die Erkenntnis, daß John Cale extrem sanft geworden ist. Meint: sanft geworden, extrem geblieben.

Christian Buß