Darmentleerung und Nachrichtenaufnahme Von Mathias Bröckers

Bei einem lauschigen Grillabend tauchte neulich wieder einmal eine jener scheinbar selbstverständlichen Fragen auf, die aber kaum gestellt werden und deshalb gar nicht so selbstverständlich zu beantworten sind. In diesem Fall ging es um die merkwürdige Konnektion von Darmentleerung und Nachrichtenaufnahme, vulgo: Warum liest der Mensch beim Scheißen?

Nach Erhebungen in der Grillrunde und nachfolgenden Recherchen existiert die Scheiß-Lese-Lust bei gut 80 Prozent der Bevölkerung. Zwar werden auch Romane, Sach- und Schulbücher, ja sogar Kochbücher mit aufs Klo genommen, doch Zeitungen und Zeitschriften sind die klaren Favoriten. Hier wiederum vor allem die „leicht verdaulichen“ Artikel – Sport, Unterhaltung, „Wahrheit“. Während Leitartikel und Offiziöses eher aufrecht am Frühstückstisch eingenommen werden, wird beim Abhocken auf dem Topf gern geschmunzelt. Klatsch, Comics, Kreuzworträtsel, sowie – Werbefuzzis aufgemerkt! – Reklame haben auf bundesdeutschen Klos die besten Einschaltquoten.

Mit diesen medienstatistischen Daten ist die Frage freilich noch nicht beantwortet. Die vulgärfreudianische Deutung, daß sich das neurotische Ich über den peinlichkeitsbesetzten Akt eben mit betont harmloser Lektüre hinwegtäuscht, greift zu kurz. Schließlich ließe sich das unangenehme Geschäft am schnellsten ja ganz ohne Lektüre erledigen, während die Mitnahme von Lesestoff gerade auf ein genußvolles Sicheinrichten verweist. Mit Verstopfung oder anderen Stuhlgangproblemen hat der Hang zur Klolektüre ebenfalls wenig zu tun, wobei einige der Befragten angaben, daß derlei vielmehr drohte, wenn nichts zu lesen zur Hand sei. Ich selbst habe, in zeitunglosen Hotelzimmern, bisweilen sogar schon verzweifelt nach der Nachttischbibel gekramt – ohne Papiermagie kein vernünftiges Morgenei! Wobei sich das Alte Testament mit seinen Mord-, Betrugs- und Inzuchtgeschichten übrigens als ebenso enddarmentspannend erwiesen hat wie ein aktuelles Revolverblatt.

Diese meditative, entspannende Wirkung unangestrengten, beiläufigen Lesens ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe für die Klolektüre – würden Toiletten und Badezimmer als Stiefkind der Architektur nicht dazu zwingen, dumpf gegen sterile Kacheln zu glotzen, ginge sie vermutlich deutlich zurück. Kaum jemand käme etwa auf die Idee, auf stille Örtchen eines Zen-Klosters – mit Panoramasicht auf Garten und Teich – eine Zeitung mitzunehmen; dafür soll schon mancher Mönch beim Scheißen vom Erleuchtungsblitz getroffen worden sein. Uns dagegen bleibt, bei der Unwohnlichkeit unserer Toiletten, nur die virtuelle Buchstabenwelt.

„Geschrieben stinkt Scheiße nicht“, bemerkte Roland Barthes. Der Dichter entfernt das Überflüssige, den Müll und Unrat, aus der Sprache und macht sie unverweslich. Daher vielleicht der auf öffentlichen Toiletten zu besichtigende Hang zur anonymen Lyrik – der Akt der Verwesung und des Überfließens scheint die Produktion von Unverweslichem, Ewigem zu provozieren – sowie die Bevorzugung „leichter“ Klolektüre. Sie stinkt zwar nicht, aber enthält all den Dreck, Müll und Überfluß der Welt. Während wir uns oben mental darin aalen, entleert es sich unten rektal aufs allerfeinste.