Schönheit von Bienenbüttel

Gedankensplitter, Kritzeleien, Tagebücher: Peter Rühmkorf dichtet Postkarten. Der neue Band „Signatur 24“ ist ein „Buch der Freundschaft“  ■ Von Julia Kossmann

Mit Flaschenpost ist hier durchaus zu rechnen: Ein altes Haus unmittelbar am Elbstrand; vom Schreibtisch unterm Dach reicht der Blick über den Fluß – eine poetische Schiffsbegrüßungsanlage ließe sich hier einrichten. Hinter seiner mechanischen Schreibmaschine sitzt hier Peter Rühmkorf. Das Donnern beim nächtlichen Verladen Zigtausender Container am anderen Elbufer höre er schon gar nicht mehr, sagt er.

Die literarischen Prozesse, die hier ihren Ausgang nehmen, verdichten sich nie zu hermetischen Schwerguttransporten; Rühmkorfs Texte sind zum Glück nie ganz dicht und zu beweglich, um bei sich selbst zu bleiben. Das gilt nicht nur für seine Lyrik und seine Essays, sondern auch für „TABUI“, den umfangreichen Tagebuchzeitroman der Jahre 1989 bis 1991, der seit vergangenem Herbst einiges aufgewirbelt hat in den Medien, vor allem aber auch in nicht wenigen Leser- und Leserinnenköpfen und -herzen. Hier hatte Rühmkorf die Beobachtungen seiner Unsicherheiten angesichts privater oder historischer Spitzmarken „zu Tageskursen“ offeriert; inzwischen bergen zwei Aktenordner bewegte und bewegende Briefe. Sie dokumentieren, daß Rühmkorf wohl nicht ganz verkehrt damit liegt, wenn er glaubt, den Nerv jenes „nicht stromlinienförmig organisierten, unangepaßten Typus“ getroffen zu haben, der im rasenden Stillstand der Geschichte noch wissen will, wo ihm der Kopf steht.

Der hartleibigen Mißachtung durch M.R.-R. trotzend, erlebte das Buch die zweite Auflage bereits kurz nach Erscheinen. In den Reaktionen der im Selbstverortungsinteresse und zum eigenen Vergnügen Lesenden kommt immer wieder eine anachronistisch anmutende Erfahrung zur Sprache: „TABU I“ eignet sich trefflich zum gegenseitigen Vorlesen, zu zweit, zu dritt, und dazu braucht man viel Zeit, um zwischendurch ins Plaudern, Erinnern, Streiten zu verfallen. Zum Anachronismus solcher Lesekultur paßt die soeben erschienene Publikation in der Reihe „Signatur“. Der Prachtband Nummer 24 versammelt Ansichten von dem, was Peter Rühmkorf seinen Freunden und Kollegen so zwischendurch per Post übermittelt. Ein „Buch der Freundschaft“ – so lautet der Untertitel –, das sorgsam gedruckt, erlesen ausgestattet und nicht eben billig ist. Die Postkarten, Briefchen, Grüße sind gemalt, gekleckst, collagiert, gedichtet und klingen wie ein geradezu versöhnlicher Kontrapunkt zu allerlei in „TABU I“ angezupften Dissonanzen: Gedankensplitter und Kritzeleien eines Urlaubs- oder Dichterarbeitstages als verspielte Fingerübungen voller Hingabe an Allotria.

Da findet sich eine Karte aus der Lüneburger Heide, aus Bad Bevensen – geschmückt mit den Ansichten des örtlichen Krankenhauses: „Bad Bevensen, Bad Bevensen, / wir sind noch mal am Levensen. / Doch sind wir hübsch am Betensen, / sonst komm' wir bald nach Tötensen.“ In diesen Versen versammelt Rühmkorf das Schönste jener Flecken rund um Bienenbüttel, nämlich die Ortsnamen, rückt sie in die Nähe von Kahlau, und zusammen mit dem stumpfen Charme der Provinzpostkarte scheint für einen Augenblick die Stupidität sonntäglichen Landlebens auf. Solch versteinertem Status quo ruft Rühmkorf an anderer Stelle in „Signatur“ ein antikes, aber frisch recyceltes „hic salta“ („springe hier“) zu: Neben einem Kartenschnipsel, der Rhodos zeigt („hic Rhodos“), und einem, auf dem sich Malta findet („hic Malta“), hält ein gezeichneter Atlas seinen Kopf als Welt in Händen – ein sich selbst düpierender Trauerkloß („hic Atlas“).

Oft hat Rühmkorf auch seinem Nachbarn in Blankenese, dem 1995 gestorbenen virtuosen Zeichenkünstler Horst Janssen, was geschrieben und gemalt: „Ein kleiner Gruß von Haus zu Haus / per Straße oder Schiene... / Langsam gehn mir die Schiffe aus, / uuuund auf geht's ins Alpine. / Dort blüht uns zwar kein Seemannsgrab, / doch in Millionen Jahren / schleift sich der Stein von selber ab / und wo es einmal Berge gab, / wird wieder seegefahren.“ Oder Günter Grass, dem dankte er mal mit einem auf gut Masurisch verballhornten „Jinterchen und Peterchen / sich doch gut verstehterchen / Fast wie Arsch auf Hinterchen / Peterchen jrießt Jinterchen“ nachträglich für eine Preisverleihungsrede. Neben das Zeitungsfoto der kichernden Freunde hat der Dichter sich mit raschem Bleistiftstrich selbst eingefangen, als ein den Hut zum Gruße lüpfendes und springendes Wesen. „Wenn man sich einmal darauf einläßt, so als Postkartenverzierer in die Welt zu treten...“, komme eins zum anderen, sagt Peter Rühmkorf über sein Produktionsverfahren.

Auf der Ansicht der Eulenspiegel-Stadt Mölln samt gleichnamiger Brunnenfigur und Klause schlagen rote Filzstiftflammen aus einem Dach über den mißtrauenswürdig idyllischen Fassaden. Auf der bunten Wohlfahrtsmarke („+ 50 Pfennig für die deutsche Jugend 1995“) hechelt treugut ein Bild von einem deutschen Schäferhund. Zwischen Bildnissen hölzerner Götter aus der Eutiner Eisenzeit und Caspar David Friedrichs „Die gescheiterte ,Hoffnung‘“ und Schnipseln aller Art grüßt Rühmkorf mal als letzter Jakobiner mit roter Mütze, mal als „Artist im Ruhestand“ – dem Goethe in der Campagna nachgekritzelt – oder als fidel schaukelnde Gegenfigur zu jenem antiken Trauerkloß, der – „salta“ – die Dinge ja nur mal umgekehrt lesen müßte.

Peter Rühmkorf: „Signatur 24“. Hrsg. von Theo Rommerskirchen, Remagen-Rolandseck, Einzelpreis 550 Mark (Abonnement 288 Mark) inkl. original Handpressen- Kupferdruck und Acrylglasschuber (Horst Janssen, „Signatur 3“)