: Wenn nur noch Wunder helfen
Mit Magie hoffen die im neuen Elend lebenden Russen auf bessere Zeiten. Ikonen, Reliquien und andere okkulte Helfer haben Hochkunjunktur. Viele Menschen lassen sich von Wunderheilern an der Nase herumführen ■ Aus Moskau Barbara Kerneck-Samson
Als im Juni in Moskau Tausende von Menschen bis zu zehn Stunden am Tag Schlange standen, war nicht etwa Michael Jackson auf die Idee gekommen, in der russischen Hauptstadt Autogrammstunden abzuhalten. Die Massenaufläufe galten dem vom griechischen Berg Athos eingeflogenen Köpfchen des heiligen Pantheleimon. Der soll sich im dritten Jahrhundert als junger Arzt den Zorn seiner Kollegen am Hofe Kaiser Maximilians in Konstantinopel zugezogen haben, weil er unentgeltlich die Armen heilte. Konkurrenten sorgten dafür, daß ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Sein auf wunderbare Weise geborgenes Haupt setzt die Tätigkeit des sozial gesonnenen Mediziners fort.
Meine Milchfrau Ludmila ging „nur so für alle Fälle“ hin. Neben ihr standen Erzieherinnen eines Waisenhauses Schlange, die einen ganzen Kleinbus ihrer Zöglinge herbeigekarrt hatten. „Das eine ist epileptisch“, verkündeten sie: „Drei leiden unter zerebraler Paralyse, dann haben wir welche mit dem Down-Syndrom und viele, die weder gehen noch sprechen können. Wo sollen wir sie hinbringen, wenn nicht hierher?“
Kein Wunder, daß der Kampf der orthodoxen Kirche gegen heidnischen Dämonenglauben bei den RussInnen erfolglos war. Die Orthodoxie selbst verklammert Christentum mit Aberglauben. Die wichtigste Klammer ist aus Holz: die Ikone. Eine Ikone sollte eigentlich nicht zum Götzen werden, aber als Fenster in eine höhere Realität ist sie stets nahe daran. Höchstleistungen vollbrachten Ikonen, vor allem im Mittelalter, als sie einfach von ihren Brettern stiegen und in historische Schlachten eingriffen. Was eine richtige Ikone ist, die wendet von Unwürdigen ihr Antlitz ab und spricht öfters mal zu Betenden. Und weil sie ihrerseits auch alles hört und sieht, pflegten im alten Rußland die Eheleute schonungsvoll ein Tuch über ihre Ikone zu hängen, bevor sie miteinander ins Bett gingen.
Die Bolschewiki verbrannten Ikonen, aber sie sahen sich gezwungen, flugs in Gestalt von Führerbildern Ersatz zu liefern. Und die Rekorde des Vorarbeiters Stachanow? Erfüllung der Fünfjahrpläne in vier Jahren? Errichtung des Sozialismus in einem Land? Die USA innerhalb des nächsten Jahrzehnts überholen? Wenn das keine Wunder sind!
Zur Blütezeit der Perestroika, als der Zerfall der Sowjetunion dem Volke bereits schwante, kam auch die Stunde der Wunderdoktoren in den Massenmedien. 1989 verging keine Woche, in der nicht ein gewisser Kaschpirowski die ZuschauerInnen im Studio und vor den heimischen Bildschirmen heilte. Eine hauptstädtische Zeitung machte vorübergehend großen Reibach, indem sie ihre Auflage an gewissen Tagen von Kaschpirowski „besprechen“ ließ. Sobald man das Blatt gelesen hatte, konnte man es zum Hütchen falten und auf diese wunderbare Weise die von den Tagesnachrichten verursachten Kopfschmerzen wieder vertreiben.
Inzwischen hoffen die RussInnen nicht einmal mehr darauf, in zehn Jahren die USA einzuholen, geschweige denn zu überholen. Sozial betrachtet ist der neue russische Glaube an Wunderheilungen kein Wunder – hat doch die konventionelle Medizin das Leben der BürgerInnen in den letzten Jahren weder sicherer noch länger gemacht. Die durchschnittliche Lebenserwartung des russischen Mannes ist von Mitte 60 auf 57 Jahre gesunken. Wer sich keine teure Privatklinik leisten kann, der erblickt in der Vermeidung von Krankenhausaufenthalten für sich selbst die wichtigste gesundheitsfördernde Maßnahme.
Rund 27.000 Menschen lassen sich in Moskau täglich von Magiern und WunderheilerInnen an der Nase herumführen, die daran wundervoll verdienen. Nur etwa zwei Prozent dieser okkulten HelferInnen bringen nach ExpertInnen-Schätzungen ihren KlientInnen irgendeinen Nutzen. Wie der russische Schelm und literarische Held Kosma Prutkow schon im 19. Jahrhundert bemerkte: „Wenn die Menschen nichts mehr haben, woran sie richtig glauben können, dann hören sie nicht auf zu glauben, sondern fangen an, an alles mögliche zu glauben.“
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