Die chinesische Freihandelszone Shenzhen bietet Textilunternehmen ideale Bedingungen: Die Arbeiter sind willig, die Löhne billig, die Steuern niedrig. Die chinesischen Designer sind zudem kreativ und entwerfen mittlerweile eigene Kollektion

Von einer „Sensation“ sprach die deutsche Modebranche auf der gestern in Leipzig zu Ende gegangenen Modemesse. Erstmals präsentierte ein chinesischer Modedesigner eine eigens entworfene Kollektion in Deutschland. 200 Modelle hatte der 28jährige Liu Yang für die Eröffnungsparade in Leipzig kreiert. Deutsche Einkäufer und Modeproduzenten beobachten die chinesische Konkurrenz schon länger. Denn die Textilunternehmer aus China wollen nicht mehr billige Massenware verkaufen, sondern mit eigenen Produktlinien die Märkte in Asien, Amerika und Europa erobern.

In der Sonderwirtschaftszone Shenzhen gegenüber der britischen Kronkolonie Hongkong hat China ein ideales Terrain für die Textilwirtschaft geschaffen: Niedrige Löhne und fleißige Arbeiter locken Unternehmer, insbesondere aus Hongkong. Keine Gewerkschaft kümmert sich um Arbeitsrechte und Lohnerhöhungen, bei der Besteuerung gelten für ausländische Investoren Sonderkonditionen: Sie müssen maximal 30 Prozent Gewinnsteuern abführen.

Die Textilindustrie hat hier mehr als 1.500 Webereien, Kleiderfabriken und Schneidereien hingestellt, in denen 150.000 Menschen arbeiten. Allein die weltweit agierende Textilgruppe „Esprit“ beschäftigt von Hongkong aus 700 Angestellte und Arbeiter in Shenzhen. Bisher produzierte das Unternehmen hauptsächlich für die Märkte in Hongkong, Singapur, Taiwan und auf den Philippinen, ein Teil blieb in der Volksrepublik China. Doch in Zukunft will man sich nicht mehr auf die asiatische Käuferschaft beschränken. Anthony Wu, Manager der Designabteilung von Esprit in Shenzhen: „Wir werden die Qualität verbessern. Dann gehen wir mit unseren selbstkreierten Designerstücken auf den europäischen und amerikanischen Markt.“

Große Farbplakate, auf denen knapp bekleidete blonde Models neueste Esprit-Mode präsentieren, leuchten im Treppenhaus und in den Fertigungsräumen. Geht's nach dem Chefdesigner, dann werden in Zukunft chinesische Entwürfe die Poster zieren. Bei Modemessen in Paris und Mailand wurden die Modelle aus Shenzhen bereits gezeigt „und viel bestaunt“. Geordert haben die Europäer jedoch noch nicht. „Ich bin fest überzeugt, daß bald in europäischen Ländern Designerware aus Asien aushängt“, sagt Thorsten Bruxmeier von „Esprit Europa“ in Düsseldorf. „Zwar sind die Chinesen noch keine ernsthaften Konkurrenten im Aufspüren neuer Trends, doch müssen sich die europäischen Designer zukünftig warm anziehen“, sagt er und warnt vor der „fatalen Fehleinschätzung“, asiatische Modemacher könnten zwar europäische Modelle kopieren, nicht aber eigene entwerfen.

Wo in Deutschland oder Italien ein einziger Designer über Produktlinien brütet, kann ein Unternehmer in Shenzhen zehn Modeschneider anstellen. 1.100 Yuan (rund 200 Mark) verdient ein guter Designer im Monat, für chinesische Verhältnisse ein fürstliches Gehalt. Auch die Schneiderinnen, die mit diversen Stoffen und Farbkombinationen unermüdlich an neuen Entwurfsideen basteln, erhalten ein vergleichsweise gutes Gehalt: immerhin 800 Yuan, 300 Yuan mehr als einfache Arbeiterinnen. Zudem sind sie schneller als ihre Konkurrentinnen: Während in Europa 1.500 Angestellte mit 500 Mustern pro Saison beschäftigt sind, schafft das in Shenzhen halb soviel Personal.

In vierstöckigen Geschoßbauten entwerfen, schneidern und nähen die Arbeiterinnen auf engstem Raum Kollektionen: Von der trendigen Unterwäsche bis zum Minirock wird hier alles versandfertig abgewickelt. Dicht an dicht sitzen die Näherinnen an ihren summenden Maschinen. Neonlampen werfen grelles Licht auf die sauberen Fabriketagen. Nur selten fällt ein Wort. Die jungen Frauen arbeiten sich konzentriert und mit hohem Tempo durch die endlosen Wäscheberge. Die 700 Beschäftigten bei Esprit Hongkong sind nicht älter als 25 Jahre, viele sind nicht einmal 16. Der Großteil der jungen Frauen stammt aus bäuerlichen Familien aus dem Norden und Westen Chinas. Sie sprechen häufig nur Mandarin und verstehen das Kantonchinesisch der Südchinesen kaum. Die meisten Einheimischen in Shenzhen sind sich für die entbehrungsreiche Arbeit zu schade. Viele sind durch Grundstücksverkauf und andere Geschäfte reich geworden und würden, so die Esprit-Vorarbeiterin Polly Chui, „partout nicht mehr für diesen Hungerlohn arbeiten“. Denn die Arbeit ist hart, und die Sicherheitsstandards sind niedrig. Immer wieder kommt es zu Unfällen.

48 Stunden an der Nähmaschine sind das wöchentliche Minimalpensum. Gegenüber der Fabrik steht das Wohngebäude, eine heruntergekommene Mietskaserne. In den Unterkünften teilen sich zwölf Frauen 50 Quadratmeter. Arbeiten, schlafen, arbeiten: das ist der Rhythmus des Tages. Die einzige Abwechslung für die Arbeiterinnen ist ein Fernseher mit übergroßem Bildschirm, der die karge Kantine allabendlich zu einem Kino werden läßt. Zu Mittag gibt es dünne Suppe aus dem großen Bottich. Geduldig stehen die Frauen Schlange bis weit vor die Tür. So schnell, wie gearbeitet wird, essen sie auch: Nach fünf Minuten ist der Blechteller leer.

Mittlerweile haben auch Unternehmen aus Taiwan den lukrativen Standort Shenzhen auserwählt. Täglich kommen via Hongkong taiwanische Manager. Noch müssen sie sich jedesmal über die umständliche Einreise in die Sonderwirtschaftszone ärgern. Doch bald gehören lange Wartezeiten und der Papierkrieg mit den Grenzbeamten der Vergangenheit an. Spätestens im Juni 1997, wenn die britische Kronkolonie Honkong an die Volksrepublik China zurückfällt, werden das Finanzzentrum Hongkong und das Fertigungsparadies Shenzhen eine wirtschaftliche Einheit bilden. Dirk Jensen