Eine Grenze hinter der Friedensgrenze

■ In Marienborns Nachbarort lebten, sorgsam separiert, die Paßkontrolleure

Einer der gängigsten Irrtümer über das Grenzpersonal der DDR besteht in der Ansicht, Paßkontrolleure, Zöllner und andere professionelle Wächter an der Friedensgrenze hätten in dem fünf Kilometer breiten Sperrstreifen gehaust. Tatsächlich wurden hier nur die Wehrpflichtigen samt der unteren Militärhierarchie kaserniert. Alle höheren Kontrolleure wohnten in Städten und Dörfern rund ums Sperrgebiet. Sie wollten schließlich nicht selbst Opfer des Grenzregimes mit seinen intensiven Kontrollen, seinen periodischen nächtlichen Ausgehverboten und seinen Besuchersperren werden.

Beispielsweise wohnte von den über 800 Mitarbeitern der Paßkontrolleinheit (PKE), die die Gehaltsliste des MfS für den Bezirk Magdeburg ausweist, ein erklecklicher Teil in dem alten Bergwerksstädtchen Wefensleben, knapp zehn Kilometer von Marienborn entfernt. „Dieses Nest hätten die Enten zugeschissen, wenn wir nicht gekommen wären“, sagte ein Hauptmann der Paßkontrolleure zu einer Freundin der Dorfapothekerin, die ihr Wissen wiederum an ein Jugendkollektiv weitergab, das sich seit der Wende erfolgreich mit historischer „Spurensuche“ beschäftigt.

Und diese Jugendlichen haben nun zusammengefaßt, wie die alte Wefenslebener Dorfgemeinschaft in den sechziger und siebziger Jahren der Invasion der Grenzschützer erlag: Die ehrwürdige Karnevalsgesellschaft ging dahin, der Sportverrein „Rot-Weiß“ wurde in „Dynamo“ umbenannt, das Einheitsmarkenzeichen der „Firma“. Oberhalb der alten Bergwerkssiedlung, Kolonie 1 für die „Beamten“, Kolonie 2 für die Kumpel, entstand das Platten-Neubaugebiet, von den Ureinwohnern „roter Hügel“ oder „Millionenhügel“ ganannt. Letztere Bezeichnung verwies auf tatsächliche oder vermutete Privilegien der Neuankömmlinge. Noch ist der (später abgeschaffte) Essensbeutel der Zoll- und PKE- Kids in Erinnerung, der tatsächlich mehrfach Bananen enthalten haben soll.

Am meisten Neid und Bewunderung erregte das „Zollheim“, das von den Alteingesessenen nur auf Einladung betreten werden konnte und wo es neben Restaurant, Disco und Kintopp auch eine Sauna gab. Der ganze Komplex bröckelt heute vor sich hin, und die Hausgemeinschaft des anrainenden Plattenbaus, nach alter DDR-Sitte zum nachmittäglichen Biertrunk vereint, ist überzeugt, daß hier mit einer kleinen Geldspritze ein Wunder an Tourismus bewerkstelligt werden könnte. Manche Dörfler meinen heute, die untere und obere Hälfte der Gemeinde seien nie wirklich zusammengewachsen. Bürgermeister Thiele, früher Planökonom und seit 1990 in allgemeinem Einverständnis Bürgermeister, ist da etwas anderer Meinung.

Reibereien gab's, gibt Thiele zu, aber schließlich habe Wefensleben auch von Paß und Zoll profitiert. Hätten denn ohne Finanzspritzen der „Firma“ zur 850-Jahr-Feier Wefenslebens die Puhdys gastiert? Hätte man ohne Hilfe aus der gleichen Quelle so manchen geachteten Schriftsteller ins Kulturhaus laden können? So sieht es auch die von den Jugendlichen befragte Bibliothekarin, die in Wefensleben in den siebziger Jahren, wohlbehütet von der Staatsmacht, heranwuchs.

Nach der Wende begann der große Exodus. Davon zeugt noch heute der Leerstand bei den einst begehrten Plattenwohnungen. Viele der PKEler suchten an der Ostgrenze beim Zoll unterzukommen oder quittierten gleich den Dienst. Kaum noch einer ist heute anzutreffen, und die wenigen, die – frühberentet – blieben, ziehen es vor, zu schweigen.

Paradoxerweise geriet die Grenzlage von Wefensleben nach der Einheit zum Vorteil. Denn jetzt verlief die Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Und in letzterem Bundesland herrschte 1990 ein (trügerischer) Boom. So lernten die Wefenslebener nolens volens die Brüder und Schwestern in Helmstedt kennen – als Pendler.

Siehe auch „Wefensleben – Geschichte(n) eines Dorfes. Ergebnis einer Spurensuche von Jugendlichen“. Oschersleben 1995