Kleine Klage Von Thomas Gsella

Mutter Erde füllt sich ja doch sehr. Schon vor Jahren warnte der Club of Rome vor runden zehn Milliarden Zeitgenossen im Jahre 2030. Und schon heut gilt: Wo man auch steht und wandelt, immer ist es eher eng! Gerade die um einen Kinderwagen drappierten Jungfamilien verstehen es ganz prächtig, unsere Bürgersteige zu ihrem Hoheitsgebiet zu erklären. Man nennt dies Refeudalisierung; und weder hier noch dort kommt man dran vorbei.

Greift der Kinderwagen nach links aus, und versucht man also die rechte Umgehung, darf man in aller Regel eines bis dahin verdeckt gehaltenen Zweitkindes gewiß sein, das einem blindlings in den Fluchtweg tappt. Steht der Kinderwagen aber rechts, löst sich plötzlich eine löwenhafte Dogge aus dem Zeugungsbund und strebt nach links zu jener Hauswand, an der papierdünn sich vorbeizudrücken man doch projektierte – einer jener Halbsätze übrigens, deren Eleganz krude Gegenwart gern, sei's mit falscher Kommasetzung, sei's mit komplettem Unverständnis, zu begegnen weiß.

Aber: Auch die Bahnfahrkartenschalter glänzen durch nun freilich spezifische Übermenschung. Weder Früh- noch Spätsenioren bin ich spinnefeind, aber bekanntlich gefällt sich unsere Datterschaft darin, Bahnbeamte auf eine Weise ins Gespräch zu nehmen, die an Dauerpacht grenzt. Rache für unmenschliche, ja inhumane Altenpolitik? Gewiß; aber man muß fragen, ob das nicht nach hinten losgehen kann – wenn zum Beispiel angehende Seniorenpfleger ihren Zug verpassen wegen solcher Gespräche wie dem folgenden, vom Autor selbst erlittenen am Münsteraner Hbf. Es begann so:

„Guten Tag, Herr Schaffner! Sagen Sie doch mal, ehm ... na, was wollt' ich denn? Ah ja: Morgen würde ich sehr gern meine Nichte besuchen. Welchen Zug kann ich da nehmen? Nein, warten Sie. Übermorgen! Freitag, ja. Heute ist doch Mittwoch, Herr Schaffner?“

„Nein, heute ist Samstag. Wenn Sie freitags fahren wollen, dann... Zu Ihrer Nichte, sagen Sie. Wo wohnt Ihre Nichte?“

„Ja, wissen Sie, das ist auch so was. Bis vor drei Jahren war sie in Bremen gut verheiratet, aber dann kam die Sache mit dem Rohrbruch – und sie zog dann, glaube ich, nach Freiburg oder in ein Dorf bei Lübeck – hach, wo ist mein Adreßbuch? Einen Moment bitte... herrje, da ist doch immer mein Portemonnaie drin! Schwester Monika sagt immer: ,Herr Wupke‘, sagt sie, ,mein lieber Herr Wupke‘...“

... usw., ich überspringe zehn Minuten und leite elegant zur zweiten Halbzeit über:

„Also in Unterwulfsberg umsteigen und dann auf Gleis 3 nach Greifswaldheim. 14.17 Uhr, ja, das habe ich mir notiert, Herr Schaffner. Aber hören Sie! Freitag ist vielleicht doch ein bißchen spät. Am besten, ich nehme den morgigen Nachtzug. Oder? Und was meinen Sie: Kann ich wohl meine Nichte um 4 Uhr aus dem Bett klingeln? Sie fängt nämlich ziemlich früh an in ihrem Büro, müssen Sie wissen...“

Natürlich kaufte der Alte gar keine Karte, und ich hatte verstanden. Man schiebe derlei Vorgehen nicht auf Schusseligkeit: Das planen Graue Panther beim Frühstück. Ja ja, genau so ist es. Und wissen tun es auch schon alle. Um so besser, daß es hier noch mal gesagt wurde!