„Vieles verschiebt man auf später“

■ Sie arbeiten beide, aber das Geld ist knapp. Marion Schneider und Detlef Kakuschke wirtschaften „am Rand“

Man wüßte ja gern, wie die anderen das machen. Jedes Jahr Urlaub, jwd, so was funktioniert heutzutage doch nur auf Kredit. Aber Schulden machen, nee! Und eh sie im Urlaub jeden Pfennig umdrehen müssen, bleiben Marion Schneider und ihr Lebensgefährte Detlef Kakuschke lieber zu Hause. Zum Glück haben sie ja den Schrebergarten. Eingerahmt vom häuslichen Plüschtierzoo, legen Marion Schneider und Detlef Kakuschke ihre finanzielle Situation auf den Tisch: „Warum sollen wir nicht zugeben, daß wir uns zwei bis drei Grad über dem Rand durchwurschteln?“

Knapp über dem Rand – das ist bei den beiden mitten im Beruf. Mit ihren 43 Jahren hat Marion Schneider bereits 29 Arbeitsjahre auf dem Buckel. Vom „Facharbeiter für städtischen Nahverkehr“ ist sie zur Zugabfertigerin und Weichenstellerin bei den Ostberliner Verkehrsbetrieben aufgestiegen – jahrelang Nacht- und Wechseldienste, morgens um drei Uhr aus dem Haus, Sonntagsarbeit. Wie sie das durchgestanden hat, weiß sie selbst nicht mehr, aber irgendwie hat sie auch das geschafft: neben dem „Knüppeljob“ zwei Söhne großgezogen, Mann und Kinder versorgt, auf den Trabi gespart, das DDR-Plattenheim neu möbliert „und dabei eigentlich gar nicht so schlecht gelebt“.

Zwanzig Jahre arbeitet Marion Schneider jetzt bei der U-Bahn, seit 1992 ist sie Personalratsvorsitzende für ihren Bezirk. Sie macht ihren Job gern. Nur wenn sie nachrechnet, wieviel Geld ihr diese Arbeit einbringt, dann beschleicht sie der Gedanke: „Arbeiten geht man eigentlich nur noch, um das eigene Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Damit man sich sagen kann: Du hast ja noch einen Job.“

Dabei hört sich alles so gut an: sicherer Arbeitsplatz, öffentlicher Dienst, 94 Prozent Westgehalt, Anstieg nach Alter und Berufsjahren. Auch Marion Schneiders Gehalt zeigt steigende Tendenz. Nur – das Geld im Portemonnaie wird deshalb nicht mehr. Von den 4.400 Mark brutto bleiben ihr netto noch rund 2.700. Nach Abzug von Miete, Strom und Versicherungen ist dieser Betrag auf 1.400 Mark geschrumpft. Davon wollen die beiden Söhne versorgt sein, die nach der Scheidung beim Vater blieben. Marion Schneider bezog mit ihrem neuen Lebensgefährten eine eigene Wohnung in Westberlin. Essen, Klamotten, Taschengeld für die Kinder – schon sind weitere 1.100 Mark weg. Fazit der Bilanz: Gerade 200 bis 300 Mark bleiben ihr selbst. Davon legt sie jeden Monat noch etwas auf die hohe Kante, „das muß sein. Das brauche ich für mein Sicherheitsgefühl“ – und für Träume, die die quirlige Frau mit den lachenden Augen nicht verloren hat: „Einmal nach Amerika!“

Sparen gehört bei Detlef Kakuschke längst unter die Rubrik „das war einmal“. Dabei hat auch der 51jährige als Buchrestaurator bei der Berliner Staatsbibliothek ein passables Bruttogehalt. Netto jedoch kriegt er heute 600 Mark weniger als vor drei Jahren. Seit 1993 ist sein Gehalt von 3.100 auf 2.500 Mark geschrumpft: Zuerst fraß der Wegfall der Berlinzulage rund 400 Mark, dann der Solidarzuschlag, später die Pflegeversicherung und schließlich auch noch die andere Steuerklasse, in die er durch die Scheidung von seiner Frau rutschte. Das steckt man nicht einfach weg, „schon gar nicht bei steigenden Preisen“! Fixkosten und Unterhalt für die Exfrau abgezogen, bleiben Detlef Kakuschke noch 500 Mark für den eigenen Lebensunterhalt. Nein, er hat nichts gegen die deutsche Einheit, nicht, daß das mißverstanden wird, „aber uns im Westen geht es seitdem einfach schlechter. Das kann man nicht schönreden.“

Für Detlef Kakuschke ist die „Schallgrenze“ fast erreicht, an der ihn auch geregelte Arbeit nicht vor existentieller finanzieller Bedrohung schützt. Marion Schneider sieht noch etwas Spielraum. Außerdem: „Große Sprünge“ haben sie beide nie machen können, da fällt es jetzt leichter, sich „auf die Verhältnisse“ einzustellen. Man hat ja „von kleinauf verzichten gelernt“. Die beiden haben ihre eigene Sparpolitik entwickelt und immerhin etliche Ausgabenposten gefunden, wo Verzicht nicht gleich zur Existenzfrage wird: im Supermarkt noch mehr auf Sonderangebote achten, Kleidung nur noch kaufen, wenn sie wirklich gebraucht wird, nicht mehr jeden Monat ins Theater, aus der Kirche austreten und nur noch ganz selten „mal schön essen gehen“. Wenn nicht gerade der Fernseher kollabiert oder die Zähne saniert werden müssen, dann kommen Marion Schneider und Detlef Kakuschke einigermaßen klar. Doch so wie den Urlaub und den Traum von Amerika „verschiebt man eben vieles auf später“.

Aus ihrer Arbeit als Personalrätin kennt Marion Schneider etliche Kollegen, bei denen Teuerung und höhere Sozialabgaben längst zur Existenzfrage geworden sind: Leute, die sich verschuldet haben und nun um Sonderschichten kämpfen, Kollegen, die ihre eigene Kündigung unterschreiben, um mit der Abfindung die Gläubiger ruhigzustellen, Mitarbeiter, die sich trotz Krankheit zur Arbeit schleppen, weil ohne Nacht- und Sonntagszuschläge ihr privates Finanzierungsgebäude zusammenkrachen würde. Krankheit – da schlägt auch Marion Schneiders resoluter Optimismus in Existenzangst um: „Wir sehen doch, wie wir unsere Gesundheit im Betrieb lassen. Wenn ich daran denke, hab' ich das Gefühl, ich geh' über Morast.“ Manchmal hat sie Alpträume: „Wie lange kann ich das gesundheitlich noch durchhalten?“

Sie muß gar nicht lange rechnen: Wenn die Bundesregierung mit der Kürzung der Lohnfortzahlung bei Krankheit durchkäme, würden viele Kollegen bei der erstbesten Grippe unter die Sozialhilfeschwelle rutschen. Auch sie selbst wüßte nicht, wie sie mit ihrem Einkommen dann auskommen sollte.

„Um die Lohnfortzahlung haben wir jahrelang gekämpft!“ ereifert sich Detlef Kakuschke, „unser ganzes Sozialsystem bricht zusammen, da müssen sich die Leute doch mal wehren.“ Aber so recht glaubt auch er, der aktive Gewerkschafter, nicht an den Massenprotest. „Es ist mucksmäuschenstill“, wirft Marion Schneider ein, „und jeder trägt seinen Frust allein. Man ahnt nur, wie tief die Existenzangst tatsächlich steckt.“ Gut, da sei vielleicht auch etwas Bequemlichkeit dabei und Zweifel an den Gewerkschaften. Aber vor allem sei da dieses verdammte Gefühl: „Da wo du stehst, stehen draußen schon zehn andere und warten.“ Vera Gaserow