Außer Kontrolle

■ Wie frei ist das Internet wirklich? "HotWired"-Kolumnist Jon Katz wirft der Netzgemeinde "digitalen Faschismus" vor

Selbstkritik gehört nicht zu den auffälligtsen Tugenden der Internet-Pioniere, die davon überzeugt sind, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren. Doch inzwischen mögen die Propheten selbst nicht mehr ganz an ihre Botschaft glauben. Selbst in der Redaktion des Online-Magazins HotWired keimen gewisse Zweifel. Ausgerechnet die erklärten Techno-Avantgardisten rufen zu Toleranz und Mäßigung auf. Selbst die Meinungsfreiheit müsse gewisse Grenzen einhalten, warnt seit Wochen HotWired-Starkolumnist Jon Katz. Denn nicht die konservativen Tugendwächter bedrohten das Internet, sondern die sogenannten Geeks, die Netzfreaks also, die sich selbst für das Maß aller Dinge halten.

Jon Katz, Buchautor und durch intime Kenntnis der Entstehungsgeschichte des Internet bestens legitimiert, geht hart mit ihnen ins Gericht. Aus der Verteidigung der Redefreiheit, schrieb er am 11. August in seiner HotWired-Kolumne unter http://www.netizen.com/ netizen/, sei eine Art von „digitalem Faschismus“ entstanden, der ein „zivilisiertes Heranreifen“ des neuen Mediums „praktisch unmöglich“ mache.

Tatsächlich sind die Zeiten längst vorbei, zu denen Fäkalausdrücke im Usenet noch durch Sternchen ersetzt wurden. Auch die einst verpönten anonymen Adressen gehören inzwischen zum guten Ton der Netzkrieger, die sich „Cypherpunks“ nennen, weil sie auch die Preisgabe ihres Namens für eine Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit halten. Vor allem Neulinge, die endlich einmal mehr tun möchten, als nur bunte Websites anzuklicken, haben in den Newsgroups mit unflätigen Beschimpfungen anonymer Autoren zu rechnen.

Neu ist dieses Phänomen nicht, aber es wurde zum Problem, seit das Bundesgericht von Philadelphia das Zensurgesetz der US- Kongreßmehrheit zu Fall brachte und in sein Urteil schrieb, daß keine Regierung das Recht habe, die schrankenlose Freiheit der Rede zu behindern. Seither ist die Netzgemeinde wieder auf ihre eigenen Regeln verwiesen. Nur gibt es keine mehr. Umgehend kündigte die Bundes-Staatsanwaltschaft zudem die Gründung einer Sonderkommission an, die das Internet nach jenen Straftatbeständen absuchen solle, die auch nach Meinung der Bundesrichter von Philadelphia justitiabel sind – für Katz zunächst nur ein weiterer Beweis der regierungsamtlichen Unfähigkeit, die Regeln des Internet zu begreifen. Genüßlich malte er in seiner Kolumne das Schicksal der Fahnder im Datenmeer aus und rief siegesgewiß zur Bildung einer „GEEK Force“ auf, einer, wörtlich übersetzt, „weltweiten Anstrengung zur Ausrottung der Ahnungslosen“ (Global Effort to Eradicate Know-nothings).

Doch der Stilist hatte sich im Ton vergriffen. Die Satire wurde wörtlich verstanden, dankbar nahm die Netzgemeinde den nächsten Feind ins Visier, nachdem der Communcations Decency Act nicht mehr geeignet war, die einigende Rolle des Hauptgegners zu spielen. Im ironischen Überschwang hatte Katz außerdem gleich die Statuten der Sturmtruppe formuliert. Nur Freiwillige sollten beitreten, zum Äußersten entschlossen, und Freiwillige gab es genug. Aus insgesamt zwölf Ländern gingen begeisterte Briefe ein, zwar meist witzig gemeint – „Ich übernehme die Philippinen“ – in der Sache aber ebenso militant wie blind für Katz' oft wiederholte Forderung, das Internet müsse ein ziviler Raum des gegenseitigen Respekts und der vernünftigen Argumente sein. Statt dessen wurde das GEEK-Forum selbst zum Kampfplatz, die Militanten riefen nach direkter Aktion – nicht im Internet, sondern in der realen Welt. Ernsthaft wurde die Gründung einer Organisation vorgeschlagen, die den „Know-nothings“ in ihrem Wohnbezirk und auf der Straße den Kampf ansagen sollte.

Nur: Wer sind die Ahnungslosen des Internet? Katz mahnte vergeblich, an die Neulinge zu denken, die sich bei ihm über den rüden Umgangston beklagten. Erst sie, die nicht schon seit Jahren mit Modem und Computer spielen, würden das Internet zu jenem demokratischen Medium machen, das es noch lange nicht ist. Aber eine tiefsitzende Frustration der Geeks verschaffte sich Luft – der Name war ursprünglich als Schimpfwort für die pickligen Jungs mit Festplatte im Gehirn geprägt worden. Sie schlugen im GEEK-Forum verbal zurück, gegen Politiker, vor allem aber gegen Journalisten, die an der öffentlichen Stimmung gegen das Internet schuld seien. Einer von ihnen, ein Redakteur für Technik und Wissenschaft beim Boston Globe, wagte es, sich selbst in die Debatte einzuschalten. In schönster Flame- Manier wurden seine Argumente als blanke Heuchelei eines Lohnschreibers abgetan.

Katz gab auf, das Forum ist geschlossen. Er selbst und die Redaktion von HotWired hätten sich wohl nicht genügend Gedanken gemacht, wie eine solche Aktion organisiert werden müsse. Die GEEK Force sei gescheitert aus wahrscheinlich unvermeidlichen, wenn auch traurigen Gründen, schreibt Katz, wohl wissend, daß damit nur die halbe Wahrheit gesagt ist. GEEK-Fans kündigen schon an, im lokalen Rahmen weiterzumachen. Gescheitert ist nur Jon Katz mit seiner Idee einer rationalen Selbstkontrolle des Netzes. Niklaus Hablützel

(niklaus@taz.de)