Besetzer-Träume auf schwäbisch

In Reutlingen setzten sich Autonome, Immobilienmakler und die Stadtverwaltung an einen Tisch und verhandelten: Heraus kam ein Neubau für das autonome Kulturzentrum „Zelle“  ■ Von Philipp Maußhardt

Die tote Kakerlake brachte immerhin noch zehn Mark – „zum ersten, zum zweiten, zum dritten“. Einträglicher war die Eisenstange aus der Umzäunung von Gorleben (zwanzig Mark) oder der Stuhl, auf dem schon Jutta Ditfurth „gesessen haben könnte“. Er ging für vierzig Mark an einen nostalgischen Käufer. Ausverkauf eines Jugendhauses in der schwäbischen Provinz. In Reutlingen versteigerte die „Zelle“ ihr altes Inventar, an dem Erinnerungen von nunmehr 28 Jahren klebten. Der Sommerschlußverkauf in einem der ältesten autonomen Zentren Deutschlands hatte einen erfreulichen Hintergrund: Nach jahrelangen Verhandlungen haben die Stadtverwaltung und ein Immobilienmakler den schwäbischen Schmuddelkindern ein nagelneues Haus in bevorzugter Stadtlage gebaut. Die nächsten zwanzig Jahre kann die „Zelle“ es nutzen.

Der Fall ist einmalig: Die „Zelle“-Aktivisten, die mit Aktionen für RAF-Gefangene oder Hausbesetzungen dafür sorgten, daß sie immer wieder zum Bürgerschreck avancierten, waren über Nacht präsentabel geworden. „Beispielhaft“, lobt sich die Stadt, habe sie den „Konflikt gelöst“. „Ganz prima“, findet der Immobilienmakler Willi Schöller, „was diese jungen Leute da machen“.

Für rund 700.000 Mark stellten Stadt und Makler zu gleichen Teilen einen Neubau hin – und lockten damit die aufsässigen Jugendlichen aus ihrem bisherigen Sanierungsgebiet weg. Dort hatte sich die „Zelle“ in einer alten Fabrikhalle eingenistet und war ohne Zugeständnisse nicht mehr herauszubekommen. Es wurde verhandelt, besetzt und gedroht. Am Ende, so der Makler, „haben die einfach professionell verhandelt“ – in Zeiten leerer öffentlicher Kassen mit einem überaus erstaunlichen Ergebnis. Für das neue Gebäude fror die Stadt sogar den Mietpreis ein: Das selbstverwaltete Zentrum muß in den nächsten zwanzig Jahre monatlich nur 800 Mark zahlen.

Von den 68er-Zentren in der Bundesrepublik ist die „Zelle“ eines der wenigen, das den Alterungsprozeß ohne grundsätzliche Strukturveränderungen überstanden hat. Noch immer trifft sich, wie vor knapp 30 Jahren, jeden Dienstagabend die „Mitgliederversammlung“. In den Sitzungen darf noch heute jeder fast alles sagen, wie und solang er es für nötig hält. Gründungsopas oder -omas gibt es längst nicht mehr. Die haben mittlerweile ehrenwerte Berufe, sind Landtagsabgeordnete der FDP oder Botschafter geworden. Wie früher wird auf der Dienstagssitzung entschieden, wer Thekendienst hat, wer zur Blockade nach Gorleben fährt und ob über Besucher, die Frauen anmachen, ein Hausverbot verhängt wird.

Begonnen hatte alles 1968 in einem ehemaligen Samenlager, einem zum Abriß bestimmten Schuppen, gleich am Bahnhof. Hier trotzten Langhaarige den Bauvorschriften und der bürgerlichen Moral mit Haschischpfeifen und Vietnam-Happenings. Die „Steinfresser“, Kultband der 70er Jahre, waren Stammgäste, und Hannes Wader galt als unbekannter Liedermacher. Daß die Reutlinger vom Rüstungswahnsinn erfuhren, verdanken sie ebenso der „Zelle“ wie den Umstand, daß die Zahl ihrer Kriegsdienstverweigerer in den 70er Jahren sprunghaft anstieg.

Mit dem Umzug von der Samenhandlung in die alte Fabrik rettete sich das Kulturzentrum 1983 vor dem Abrißbagger. Doch der stand von Anfang an auch dem neuen Domizil bedrohlich nahe: ein Sanierungsgebiet, an dem Stadt und Immobilienmakler gut verdienen wollten. Bei der „Roten Flora“ in Hamburg, einem von der autonomen Szene erfolgreich verteidigten Zentrum, ließen sich die „Zelle“- Mitarbeiter im Häuserkampf weiterbilden. Bis heute stehen Hamburger Metropole und Reutlinger Provinz noch in engem Kontakt.

Doch was in Hamburg nur durch Straßenschlachten gelang, regelte man im Süden eleganter. Weil Immobilienmakler Willi Schöller, Hauptinvestor des Sanierungsgebiets, rechnen konnte, bot er seine Vermittlung an. „Wir gingen mit langen Zähnen hin“, sagt „Zelle“-Aktivistin Brigitte Ströble, „und waren hinterher irritiert“. Denn der fundamentale Christ und Makler Schöller stand nach den Gesprächen eher auf der Seite der Hausbesetzer. Als er schließlich 350.000 Mark und einen Architekten für den Neubau aufbot, konnte auch der Gemeinderat das Angebot nicht mehr ausschlagen.

Anfang September feiert die „Zelle“ nun ihren Einzug ins neue Domizil. Der Neubau erfüllt alle „Forderungen“ der „Zelle“-Aktivisten, die zum großen Ärger der Stadtväter nicht bitten, sondern verlangen: einen großen, schallisolierten Veranstaltungsraum mit Bühne, Nebenräume für Büros und Mitarbeitertreffen samt Sanitäranlagen.

In der Reutlinger Stadtverwaltung scheint das alte Feindbild dennoch weiterzuleben: Als beim Abschiedsfest in der alten Fabrik auch ein Straßenschild mit der früheren Adresse versteigert wurde, schickte die Stadtverwaltung prompt eine Rechnung: Das Schild sei „öffentliches Eigentum“ und „ungerechtfertigterweise entwendet“ worden. Pro Buchstaben seien 1,52 Mark (beidseitig bedruckt) sowie „Zeitaufwand für einen Facharbeiter“ (74 Mark), ein Ersatzschild (60 Mark) plus Mehrwertsteuer (31,45 Mark) zu entrichten.