Exklusiv in der taz: Lew Kopelew über Olga van Beek

Wer auch nur einmal Olga Bontjes van Beek begegnete, der wird sie nie vergessen können. Ich habe die Freude erlebt, sie kennenzulernen, durfte einige Male sie besuchen. Ihr Blick, ihr Lächeln, ihr ganzes Verhalten waren ungekünstelt natürlich und ließen keine Spur ihres Alters erkennen. Man mußte sich Mühe geben, sich daran zu erinnern, daß sie schon im vorigen Jahrhundert gelebt hatte, daß ihr Vater, Heinrich Breling, Soldat bei Sedan, dann königlich-bayerischer Professor und Hofmaler gewesen war, bevor er zum Gründungsvater der Künstlerkolonie Worpswede-Fischerhude wurde.

Das Leben und Werk von Olga Bontjes van Beek füllen eine der schönsten Seiten in der Geschichte deutscher Kultur, deutschen Geisteslebens.

Als Kind wuchs sie im Kreise verwandter und befreundeter Künstler auf. Kindliche und jugendliche Lebensfreude, unstillbare Neugierde für Mensch und Natur, Musik und Farben prägten ihre Weltsicht und Weltempfindung, die von Liebe durchdrungen war, von einer Liebe zu Eltern und Schwestern, zu Kindern und Freunden, zu Bildern und Gedichten.

Sie wurde Tänzerin, lernte bei Isadora Duncan, der weltberühmten choreographischen Revolutionärin. Doch Olga Bontjes van Beek schuf ihre eigenständigen Ausdrucksformen. Sie tanzte solo in Sonderkonzerten, begleitet von geistreichen, verständnisvollen Musikern, wurde international bekannt, von Zuschauern enthusiastisch begrüßt, von sachverständigen Kritikern hochgelobt. Sie tanzte ihre Lebensfreude, ihre Neugierde, ihre Liebe, die nach Ausdruck drängten und mitgeteilt werden mußten. Es waren nicht immer fröhliche Gefühle, auch Trauer und Kummer, Mitleid und Zorn und Widerstand, wurden zu Quellen ihrer Kunst.

Sie war bereits weltbekannt und erfolgreich, aber nach ihrer Heirat mit dem Keramiker Jan Bontjes van Beek, wurde sie in wenigen Jahren Mutter von drei Kindern und gab das Tanzen auf.

Sie begann zu malen. Zeichnen hatte sie noch als Kind vom Vater gelernt. Ihre ältere Schwester Luise war bereits eine reife Malerin, verheiratet mit Otto Modersohn, dem geistigen Leiter der Worpswede-Fischerhude-Gemeinschaft. Die ältere Schwester Annelie war Bildhauerin und die Bildhauerin Clara Rilke-Westhoff gehörte zum engsten Freundeskreis der Familie Breling.

Als Graphikerin und Malerin war sie unverkennbar ein Sproß der großen Künstlerfamilie von Worpswede-Fischerhude, doch zugleich durchaus eigenständig. Ihre Malerei ist musikalisch und plastisch, wie ihr Tanz es war; ihre Bildermelodien – Landschaften, Stilleben – strahlten eine trotzige Lebensfreude aus, die selbst in finsteren, traurigen Motiven durchklingt, durchleuchtet.

Diese heilende Ausstrahlung empfinde ich immer wieder. Jeden Tag blicke ich auf ihr Bild „Straßenecke in einem spanischen Dorf“ (Aquarell und zartfarbige Kreidezeichnung), das sie mir geschenkt hatte. Sie malte es, als sie etwa neunzig Jahre alt war. Doch es ist jugendlich sanft und anmutig.

Sie lebte fast ein Jahrhundert lang. Es war ein dramatisch, oft auch tragisch wechselreiches Leben. Ihr erstes Kind, die Tochter Cato, gehörte zur Widerstandsgruppe, die von der Gestapo „Rote Kapelle“ genannt wurde. Sie war erst 23 Jahre, als man sie hinrichtete. Olgas Neffe, Ulrich Modersohn, der auch ein begabter Maler war, fiel als Soldat an der Front. Sein Bruder, Christian Modersohn, auch ein Maler, war Soldat im Osten. Man bangte um ihn.

Das Andenken an Cato lebt im Hause ihrer Mutter und ihrer Geschwister. Mietje Bontjes van Beek ist Malerin, und ihre farbenschweren Bilder sind von dem unstillbaren Schmerz und Schrecken geprägt, der seit dem Krieg, seit dem Tode Catos ungeschwächt bleibt.

Olga Bontjes van Beek erlebte Anerkennung als Malerin, erfolgreiche Ausstellungen, sachverständige Besprechungen, zuletzt stellte sie zusammen mit ihrer Tochter Mietje im Magdeburger Dom aus, und als kompetenter Laudator sprach der Jugendfreund ihrer Kinder, Altbundeskanzler Helmut Schmidt.

Die Künstlerin ist von uns gegangen, und dennoch bleibt sie mit uns. Ihre Bilder werden unsere Kindeskinder im neuen Jahrhundert, im neuen Jahrtausend erfreuen. Ihr Geist ist unsterblich wie der Geist ihrer ermordeten Tochter. Sie beide gehören zu der einzigartigen fruchtbaren und tragischen Geschichte der norddeutschen Künstlergemeinschaft, die den wahren Sinn, das unvergängliche Wesen deutscher und europäischer Kultur verkörpert.

Lew Kopelew