Aus Hamburgs Festungszeit

■ taz-hamburg-Serie, Teil 1: Im April '45 entdecken die Verantwortlichen der Stadt den zivilen Ungehorsam. Die Bevölkerung bereitet sich auf die führerlose Zeit vor Von Heinz-Günter Hollein

Das Urteil war rechtskräftig, die Vollstreckung erfolgte am frühen Mittwochmorgen. Am 23. April 1945 wurde der 61-jährige Postfacharbeiter Alfred Geyer im Keller des Untersuchungsgefängnisses am Holstenglacis für den „Diebstahl von Feldpostpäckchen“ auf das Gestell des Fallbeils geschnallt und starb als „Volksschädling“.

Ohne Urteil wurden zwischen dem 21. und 24. April 13 Frauen und 58 Männer aus der Untersuchungshaft in Fuhlsbüttel ins Konzentrationslager Neuengamme überführt. „Es geht alles alles vorüber, es ist alles vorbei, erst der Führer und dann die Partei“, hatte eine der Frauen ein paar Wochen zuvor auf einer Party gesungen. Dafür stand sie jetzt nackt neben den anderen Frauen im „Galgengang“: zwei Reihen zu je sechs Haken an der niedrigen Decke des „Arrestbunkers“. Nach dem 20. Opfer wurde die Routine der Henker gestört, die Häftlinge verbarrikadierten sich im Bunker, die Wachmannschaft warf Handgranaten, wer die Explosionen überlebte, erhielt den „Fangschuß“.

Am 25. April wurde bei Blohm & Voss „U 2552“ in Dienst gestellt, das letzte von 256 Hamburger U-Booten zur „Fahrt gegen Engelland“. Allerdings ließ, so ein U-Bootkommandant 1982 in seinen Erinnerungen, „in diesen Tagen der Anlaß die unbeschwerte Fröhlichkeit früherer Jahre vermissen“.

Diesmal war selbst die Finkwarder Speeldeel samt Holzbotten und Buschemusch „dem Anlaß“ ferngeblieben, war „der Tommy“ doch schon bis Tötensen vorgedrungen. Zwei Wochen zuvor, als er noch zwischen Syke und Verden stand, war immerhin noch das Ensemble der Staatsoper pflichtgetreu zur akustischen Truppenbetreuung vor den Soldaten der 3. Flakdivision angetreten.

Seit dem 22. April war Hamburg „Festung“, eines jener „uneinnehmbaren Bollwerke in einem Meer von Feinden“, Endprodukte Hitlerscher Götterdämmerungsphantasien. Also wurden quer über die Reeperbahn Stahlträger als Panzersperren in Richtung Millerntor ins Pflaster gerammt, die Greise des Hittfelder Volkssturms mangels echter militärischer Monturen in die „eingezogenen“ Uniformen des örtlichen Schützenvereins gezwängt. Die Lebensmittelreserven der Stadt wurden als „Sonderzuteilung“ ausgeben: „echte“ Butter, Bohnenkaffee statt „Ersatz“ – alles ohne „Marken“! Ebenfalls ohne Bezugsschein versorgten sich Unbekannte in dieser Nacht aus einer Waffenhandlung in den Colonnaden mit mehreren Dienstpistolen, die ein weitsichtiger Waffenwart der deutschen Wehrmacht dort für den „Endkampf“ zur Reparatur gegeben hatte. Mit der „Volksgemeinschaft“ ging es unübersehbar zu Ende.

Und eigentlich hatte sich Adolf Hitler an diesem Tag ja auch erschießen wollen, dann aber doch „noch einmal Mut geschöpft“, überlieferte Rüstungsminister Albert Speer. Der Vertraute Hitlers saß in dieser Nacht in einem Studio des „Reichssenders Hamburg“ an der Rothenbaumchaussee, um eine „Widerstandsrede“ aufzunehmen. Entgegen Hitlers „Nero“-Befehl, dem Feind nur „verbrannte Erde“ zu hinterlassen, untersagte Speer die Zerstörung von Industrie- und Versorgungsanlagen und befahl, die Tätigkeit des „Werwolfs“ und ähnlicher Partisanenorganisationen sofort einzustellen. Auch die Mitglieder der NSDAP hätten „bis zur Besetzung die Pflicht, zu zeigen, daß sie dem Volke bis zuletzt einen Dienst erweisen wollen“. Die Tontechniker im Studio sagten dazu nichts.

Eine Widerstandsrede, die nie gesendet wurde

Gesendet wurde die Rede nie, statt dessen fuhr Speer noch einmal zu seinem Führer nach Berlin: „Seine Hautfarbe war fahl, sein Gesicht aufgedunsen, seine Uniform in dieser letzten Zeit seines Lebens oft verwahrlost und von den Mahlzeiten beschmutzt, die er mit zitternder Hand eingenommen hatte.“ Am 24. April gegen drei Uhr morgens ließ der Rüstunsgminister den „Führer und Reichskanzler“ in den Betongewölben seines Bunkers zurück, entlassen „mit Worten so kalt wie seine Hand“. Speer fuhr entlang einer bereits 90 Kilometer langen Flüchtlingskolonne über Hamburg nach Eutin. Dort bezog der Planer der Reichshauptstadt „Germania“ samt Familie zwei Eisenbahnauwagen auf einem Abstellgleis.

Bunker und Bodyguards waren die letzten Prestigeausweise der verfallenden NS-Hierarchie. Da es die mangelnden Baukapazitäten nicht zuließen, dem zyklopischen Zuschnitt des Führerbunkers in Berlin nachzueifern, hatte Hamburgs „Gauleiter und Reichsstatthalter“ Karl Kaufmann kurzerhand das ganze Areal zwischen Mittelweg, Milchstraße, Harvestehuder Weg und Alsterchaussee als Bunkerersatz gegen die Außenwelt abriegeln lassen. Am 16. April hatte er seine Hamburger übers Radio wissen lassen, er werde bei ihnen bleiben, „komme, was kommen mag“.

Unerwünschten Besuch erwartete Karl Kaufmann nicht zuletzt von den Nachbarn im Harvestehuder Weg 8, dem Sitz des SS-Oberabschnitts Nordwest. Dort harrte man in diesen Tagen allerdings auf zukunftsweisende Worte aus Gut Kalkhorst bei Lübeck, wo sich Heinrich Himmler mit einer Garde fanatischer Gefolgsleute des wallonischen SS-Freiwilligen Leon Degrelle „zur Verfügung“ hielt. Argwöhnisch geworden, versah sich daraufhin Hitlers designierter Nachfolger, Großadmiral Dönitz, mit einer eigenen Palastwache. Er beorderte schleunigst einen Trupp seiner „grauen Wölfe“, die durch „englische Terrorflieger“ um ihr Boot gebrachte Besatzung von „U 2519“, aus den Panzergräben der Lüneburger Heide zu sich nach Plön.

Gauleiter Kaufmann konnte dagegen in seinem Pöseldorfer Geviert lediglich mit einem Trupp bewaffneter Studenten als Prätorianerersatz aufwarten. Am 3. März 1933 hatte Kaufmann über dem Rathaus die Hakenkreuzfahne gehißt, vier Jahre später präsentierte er stolz seinem Führer die Pläne für Hamburgs Zukunft: Hafenerweiterung, eine Hochbrücke über die Elbe bei Övelgönne, 60-stöckige Wohntürme am Elbrand. Am 1. Januar 1945 verzeichnete Kaufmanns Gau-Wohnungskommissar 46.194 Wohn-, 6400 Gewerbe- und 822 öffentliche Gebäude als zerstört. Nur jede vierte Hamburger Wohnung war unbeschädigt, jede 16. HamburgerIn war tot. Ein Drittel der 1,7 Millionen Einwohner war in den „Feuersturm“-Nächten des Jahres 1943 aus der Stadt geflohen und nicht mehr zurückgekehrt.

Eins konnte sich Hamburgs NS-Führung immerhin gutschreiben: Aus der „freien“ war seit 1937 eine „judenfreie“ Hansestadt geworden. Im April 1945 vegetierten von einst 20.000 jüdischen Mitbürgern gerade noch 600 in Kellerverschlägen und Erdlöchern.

Über 2000 Kriegstage lang war der „Volksempfänger“ das Ohr zur Welt gewesen. Im täglichen Wehrmachtsbericht erfüllte der deutsche Soldat seine Pflicht immer noch und überall bis zuletzt: so am 24. März 1945 auf Calchi, einem Inselchen westlich von Rhodos, wo die Besatzung „ein britisches Kommando wieder ins Meer geworfen hatte“ oder im „Raum Bihac“, wo „Säuberungsunternehmen in gutem Fortschreiten“ waren. Mit gleichem Datum wurde gemeldet, daß britische Truppen den Rhein bei Wesel überschritten hatten. Drei Wochen später standen sie vor den Leichenbergen von Belsen.

Nach zwölf Jahren NS-Herrschaft entdeckten in diesen Tagen die Verantwortlichen Hamburgs den zivilien Ungehorsam. Gauleiter Kaufmann, im Urteil der Hamburger Patrizier ein „anständiger“ Nazi, rief Vertreter von Industrie, Werften und Hafenverwaltung zum runden Tisch zusammen. Am 19. März war aus dem Führerbunker der lapidare Befehl ergangen: „Militär-, Industrie- und Versorgungsanlagen sind zu zerstören.“ Wenn das deutsche Volk nicht siegen könne, müsse es eben untergehen. Das ging zu weit, kam Kaufmanns Runde beklommen überein. Es bedurfte allerdings, so ein Teilnehmer der Sitzung, „der ganzen Energie des Gauleiters“, bis man sich durchrang, dem „Führerbefehl“ zu trotzen.

Ganz ohne Zureden Kaufmanns war eine anonyme “Hamburger Kampfgemeinschaft für Frieden und Wiederaufbau“ zum gleichen Resultat gelangt: „Jeder Tag weniger Krieg bedeutet gewonne Jahre Zukunft! Hamburg darf nicht verteidigt werden, wenn Hamburg leben soll!“, lautete die Schlagzeile eines Flugblatts, in dem die Gruppe am 25. April für 17 Uhr zu einer Kundgebung aufrief. Ausgerechnet die Royal Air Force, die ihre Angriffe auf Hamburg in der ersten Nacht des Krieges mit dem Abwurf einiger hunderttausend Flugblätter begonnen hatte, verhinderte mit einem ihrer letzten Angriffe die erste Antikriegsdemonstration der Hansestadt. „Fliegeralarm“ ersparte den Mutigen den Schritt auf die Straße.

„Mit reinem Gewissen und reinen Händen aufrecht vor seinem Schicksal zu stehen, das ist in bestem Sinne deutsch“, erkannte Joseph Goebbels am 19. April in seiner letzten „Führergeburtstagsrede“. Und so begann – am gleichen Tag brachten es die Alstertaler Handballerinnen immerhin noch fertig, die HSV-Frauen 5:2 zu schlagen – die „Evakuierung“ des KZs Neuengamme und seiner 83 Außenlager. Dank jahrelanger Routine der Reichsbahn im Massentransport rollten bald die ersten vollgepferchten Güterzüge in Richtung Lübecker Bucht. Nicht weniger routiniert verfuhr das SS-Personal im Außenkommando Bullenhuser Damm. In der Nacht zu Freitag, den 21. April wurden dort 20 jüdische Kinder und ihre vier Häftlingspfleger nach monatelangen „medizinischen“ Versuchen erst „abgespritzt“ und dann erhängt.

Der Strom reichte nicht mal mehr für die Sirenen

In der Industrie- und Hafenstadt Hamburg gab es nichts mehr zu tun. Bei Daimler Benz in Wandsbek hielt sich die Tagschicht zwischen 6 und 22 Uhr nur noch am Besen fest. Seit dem 11. April gab es in der Stadt nicht einmal mehr genug Strom für die Luftschutzsirenen. Und auf der Straße war man selbst am hellen Tage nicht sicher. „Verkehrsunterbindung“ lautete der Auftrag der englischen Jagdflieger, die von Faßberg bei Hannover im Tiefflug der „Reichsautobahn“ durch die Lüneburger Heide nach Hamburg folgten. Die letzten Messerschmidt-262-Düsenjäger des Jagdgeschwaders 7 auf der Betonpiste von Kaltenkirchen galten als ebenso lohnendes Ziel wie der holzgasgetriebene PKW auf der Pinneberger Chaussee oder die Fußgängerin im abgewetzten Wehrmachtsmantel auf der Hamburger Straße.

Trotzdem waren in diesen letzten Apriltagen viele Hamburger unterwegs, bestrebt, sich auf die führerlose Zeit vorzubereiten. Die Alsterschleusen am Ratsmühlendamm füllten sich mit Hitlerbildern, Führerbüsten, SA-Uniformen und Hakenkreuzfahnen. Einige wollten allerdings nicht nach vorn blicken. Im April gab es mit 56 Fällen einen Suizidrekord. Tatwerkzeug „Dienstwaffe“, Tatmotiv „Schwermut“ verzeichnete, getreulich bis zum Schluß, die Polizeistatistik.

Nächster Teil Sonnabend, 29. April