Panzersperren am Zentralbahnhof

Neue Brückenbaukultur der Deutschen Bahn AG: Über den Humboldthafen soll eine ungeschlachte Betonbrücke statt einer filigranen führen  ■ Von Eva-Maria Höper

Kaum jemand entsinnt sich noch des vieldiskutierten Wettbewerbs um den neuen Lehrter Zentralbahnhof, aus dem die Hamburger Architekten von Gerkan, Marg und Partner siegreich hervorgegangen waren. Inzwischen sind die Bauarbeiten im Gang, und doch tut sich ein Streit auf, der, unbemerkt von der Öffentlichkeit, empfindlich in die Gesamtwirkung des mächtigen und doch so leichten Bahnhofentwurfs eingreift. Konkreter Streitpunkt ist die nördliche Eisenbahnbrücke, die durch die geplante Umbauung am Humboldthafen von Oswald Mathias Ungers in einer Länge von fast 200 Metern verlaufen wird.

Der allerorts als filigran und sensibel gelobte Brückenentwurf des Stuttgarter Ingenieurs Jörg Schlaich, der zum Bestandteil der Bahnhofsplanungen gehört, ist gefährdet. Nun unterbietet ein Gegenentwurf das 60-Millionen-Projekt um 14 Millionen Mark, und die Deutsche Bahn AG steht kurz vor dem Entschluß, das teurere Projekt des Stuttgarter Büros abzulehnen. Für den neuen Lehrter Bahnhof müssen auf einem Kilometer vier Fernbahn- und zwei S-Bahn- Gleise in 10 Meter Höhe überführt werden. Ziel der Stuttgarter Ingenieure war, die stählernen Brücken in einer geringen Bauhöhe mit möglichst freier Durchsicht in den Bahnhof einzubinden.

Jeder mag den Sparwillen derBahn angesichts der knappen Kassen begrüßen, sind es doch öffentliche Gelder, die das „Unternehmen Zukunft“ verbaut. Und doch hätte das Sparen an dieser Stelle fatale Folgen: Die nunmehr favorisierte Brücke ist neben dem architektonisch qualitätsvollen Umfeld, dem Bahnhof und der Hafenumbauung, nicht nur konventionell und ohne jeden ästhetischen Reiz, sie verschandelt geradezu das Ortsbild und ist ein Schlag gegen die Bemühungen um gute Architektur im Zentrum der Hauptstadt.

Ein paar Zahlen mögen die divergierenden Massenverhältnisse der beiden Brücken verdeutlichen: Die Version des Stuttgarter Büros spannt sich über kaum 70 Zentimeter starken, schräggestellten Stabbögen als 1,70 Meter hoher, schlanker Betonüberbau. Der Gegenentwurf wird von Betonsockeln getragen, deren Breite zwischen 7 und 11 Metern variiert bei einem Betonbau von einer durchschnittlichen Höhe von 3,40 Metern. Am gravierendsten wird die an überdimensionierte Panzersperren erinnernde Brückengründung im Bereich des Nordeingangs, der unter dieser Brücke, unmittelbar dem Hafen benachbart, in den Bahnhofsbereich führt. Dort bauen sich vor dem Berlin-Besucher Betonstützen in einer 36 Meter breiten und 9 Meter hohen Gesamtfront auf. Angesichts solcher Betonmassen mag man einen Blick auf den Freiraum des Humboldthafens vergeblich suchen.

Bei dem Streit um die Brücke geht es weniger darum, welcher Ingenieur den Auftrag erhalten soll. Es geht vielmehr um den Umgang mit öffentlichem Raum. Darf denn ein Dumping-Angebot für die komplette Fertigstellung dieses Brückenabschnitts eine Begründung dafür sein, im Herzen Berlins Ingenieurbau der „Steinzeit“ zu realisieren? Das Argument „Kostenersparnis“ zählt angesichts der Verschandelung des denkmalgeschützten Humboldthafens wenig. Wie schnell sind Zusatzkosten in Millionenhöhe erreicht, und sei es durch eine falsche Gründung der Stützenkonstruktion.

Sollte die überaus aufwendig und mit immensen Kosten verbundene getroffene Entscheidung um die Gestalt des Bahnhofs und seiner Umbauung an dieser Frage scheitern? Sollte das „Unternehmen Zukunft – Deutsche Bahn“ seinen Zielen bei einem der wichtigsten und ästhetisch anspruchsvollsten neuen Großbahnhöfe schon untreu geworden sein und, in Apathie verfallend, seinen propagierten Innovationsaufgaben abgeschworen haben?

In welchem Gegensatz stünde eine Absage an die Brücke von Schlaich am Lehrter Bahnhof zu dem erklärten Versuch der Bahn, in einer großen Ausstellung anläßlich der diesjährigen Architektur- Biennale in Venedig, die unter dem Titel „Renaissance der Bahnhöfe“ steht, Rechenschaft über den Erneuerungswillen des Unternehmens abzulegen! Das filigrane Modell der Humboldtbrücke des Ingenieurs Schlaich wird selbstverständlich dort das Thema der mit Spannung zu erwartenden Schau glanzvoll vertreten – Makulatur?

In der Schlußfolgerung würde die Realisierung der Billiglösung ein höchst unbefriedigendes Ergebnis bleiben. Vor allem Berlin dürfte sich eines weiteren architektonischen Fauxpas rühmen. Denn von einer Brücke mit skulpturalem ästhetischem Anspruch wäre nicht mehr zu sprechen. Nur eine Gruppe könnte Hoffnung schöpfen: Der Berliner Sprayerszene stünden einmal mehr Betonflächen in bester Citylage zur Gestaltung offen.

Die Autorin ist Leiterin der Architektursammlung in der Berlinischen Galerie