Staatsstreich kein Karrierehindernis

Vor fünf Jahren putschte in Rußland die alte Nomenklatura gegen Gorbatschow. Der Sieger hieß Jelzin. Heute schmieden die Putschisten schon wieder hochfliegende Zukunftspläne  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht verzeihen!“ Genau fünf Jahre ist es her, daß dieser Ruf vor dem Weißen Haus in Moskau triumphierend aus Tausenden von Kehlen erklang. Die besiegten Putschisten vom August 1991, denen er galt – da war man sich sicher –, würden bald der Gerechtigkeit zugeführt. Heute ist dieser Ruf verstummt.

Seine Adressaten wurden Anfang 1994 von der Duma und Präsident Boris Jelzin amnestiert – gemeinsam mit einer weiteren Putschistengeneration, die im Oktober 1993 einen zweiten Umsturz versucht hatte. Die Zahlen der Todesopfer sind nicht genau erfaßt. Schätzungen von Überlebenden des 93er Putsches schwanken zwischen hundert und tausend. Die Regierung, so sagen sie heute, wolle die Gründe für die vielen Todesopfer gerichtlich nicht untersuchen lassen. Jelzin arbeite nämlich inzwischen Hand in Hand mit den gleichen Nomenklaturakreisen und Geheimdienstkadern, die 1991 das „Notstandskomitee“ ausgebrütet hätten. Die Rechtsbeugung sei zur Praxis der neuen Herrschaftselite geworden.

Dem eigenen Alter spottend, schmieden viele der ehemaligen Verschwörer heute wieder hochfliegende Zukunftspläne. Sie bilden einen wandelnden Beweis dafür, daß im neuen Rußland ein versuchter Staatsstreich in einer Bewerber-Biographie nicht mehr als Karrierehindernis gilt.

Zum Beispiel Anatoli Lukjanow, 67, der mit den acht Mitgliedern des sogenannten „Komitees für den Ausnahmezustand“ ins Spezialgefängnis „Matrosenruhe“ wanderte. KPdSU-Insider betrachteten ihn als Spiritus rector des Putschs. Lukjanow manipulierte als Sprecher des Obersten Sowjet unter Gorbatschow Rednerlisten und Abstimmungsergebnisse, wie es ihm paßte. Sein häufigster Satz lautete: „So haut das nicht hin, Genossen, los, laßt uns noch einmal abstimmen!“ Heute sitzt er wieder im Parlament, als juristischer Experte Nr. 1 in Gennadi Sjuganows Kommunistischer Partei (KPRF).

Ebenfalls für die KPRF in der Duma sitzt General Valentin Warennikow, 73, einst stellvertretender Verteidigungsminister. Als einziger der August-Umstürzler gab er sich nicht mit der Amnestie zufrieden, sondern bestand auf einem Prozeß. Warennikow war am 18. August 91 daran beteiligt, Gorbatschow in Foros auf der Krim zu isolieren. Danach redete er Mitgliedern der ukrainischen Regierung zu, ebenfalls den Ausnahmezustand auszurufen. Gleichzeitig schickte er anfeuernde Telegramme nach Moskau, in denen er den Mitverschwörern vorwarf, nicht hart genug gegen Jelzin vorzugehen. Dennoch sprach ihn ein Militärkollegium Ende 1994 frei. Als mildernder Umstand wurde ihm angerechnet, er habe es als Zustimmung von Gorbatschow gedeutet, daß dieser eine Verschwörer-Abordnung am 18. August per Handschlag begrüßte. „Solche Dinge berücksichtigte die Militärgesetzgebung schon unter Peter dem Großen“, kommentierte die Tageszeitung Kommersant, „zwar nicht bei Staatsstreichen, aber bei Vergewaltigungen. Wenn eine Jungfer nicht sehr laut geschrien hatte, mußte der Soldat freigesprochen werden. Gorbatschow hat nicht laut geschrien.“

Wassili Starodubzew, 65, glänzt unter allen Exputschisten als männliche Alice im Wunderland. Heute wie damals fungiert er als Vorsitzender eines Agrarverbandes und ficht gegen das Privateigentum an Grund und Boden, weil er selbst keines benötigt. Der „Lenin-Kolchos“ bei Tula, dessen Vorsitzender er ist, erlebte – von der Sowjetmacht befreit – einen Boom. Juristisch betrachtet ist der blühende Betrieb nebst Wodka- Brennerei und Nerzfarm heute eine Kooperative. Starodubzew, mit Abstand größter Anteilseigner, kann mit den Gewinnen machen, was er will. Davon läßt sich der Superagrarier jedoch nicht blenden: „Ich liebe nun einmal die Sowjetmacht“, verkündet er. Zum Dank hat die KPRF ihn als Landwirtschaftsminister vorgemerkt.

Ganz privates Kapital verachtet keiner der Exputschisten. Valentin Pawlow, 59, ehemaliges Mitglied des „Komitees“, schaffte es als Finanzminister der UdSSR schon vor dem Putsch, die Bevölkerung an Ausnahmesituationen zu gewöhnen. Am 23. Januar 1991 befahl er, alle mit einem bestimmten Design bedruckten Fünfzig- und Hundertrubelnoten innerhalb dreier Tage umzuwechseln. Es gab Tote und Verletzte vor den Banken. Nach seiner Haft in der „Matrosenruhe“ landete Pawlow als Berater bei der als seriös geltenden „Promstrojbank“. Dank seiner Ratschläge siechten in diesem Frühjahr einige Filialen der Bank dahin, und ein vom Vorstand hofierter israelischer Partner wurde als „zionistisches Kapital“ abgenabelt. Finanzkreise munkeln: Pawlow nutzte Bankreserven für Sjuganows Präsidentschaftswahlkampf und versprach dem Bankchef dafür die Leitung der Zentralbank.

Nur zwei der August-Putschisten verzichteten völlig auf politische Tätigkeit. Marschall Dmitri Jasow, 72, Pensionär und Exverteidigungsminister der UdSSR, fühlt sich zu alt dafür. Schon während des Putsches entwickelte er bei weitem weniger Initiative als sein Untergebener Warennikow, zumal er sich angesichts des Umsturz-Stresses in chronisch alkoholisiertem Zustand befand.

Eigene Auftritte in der Öffentlichkeit hält heute auch jener Mann für „unpassend“, der sich 1991 zweieinhalb Tage lang das Amt des UdSSR-Präsidenten Gorbatschow anmaßte: Gennadi Janajew, 59. Er fristet sein Dasein als „Berater“. Nach seinen eigenen Worten ist er dabei, „manches zu überdenken“. Das Bedürfnis nach Sinngebung teilen mit Janajew viele der russischen BürgerInnen, die vor fünf Jahren auf den Barrikaden vor dem Weißen Haus ihr Leben riskierten und sich heute fragen, ob sie am Ende vom „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ nur geträumt haben.