„Nicht in die Globalisierungsfalle tappen“

■ Oskar Negt, Professor für Soziologie an der Universität Hannover, warnt die Gewerkschaften. Er hält ein neues DGB-Grundsatzprogramm gegenwärtig für nicht nötig

taz: Herr Negt, für viele linke Gewerkschafter dokumentiert der neue DGB-Programmentwurf vor allem den Willen der Gewerkschaftsführung, endgültig Frieden mit dem Kapitalismus zu schließen. Atmet der Text auch für Sie, wie es einige linke Kritiker formuliert haben, den Geist „der kleinmütigen Anpassung“?

Oskar Negt: So würde ich das nicht sagen, aber mit dem vorgelegten Entwurf passen sich die Gewerkschaften schon sehr stark an das Selbstverständnis des gegenwärtigen kapitalistischen Systems an. Alternative Ansätze werden in dem Programm kaum noch angesprochen. Statt dessen wurde vieles aus der betriebswirtschaftlichen Logik einfach übernommen.

Was wäre denn gewonnen, wenn das neue Programm – wie bisher – etwa die Forderung nach der Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien enthielte?

Damit wäre gar nichts gewonnen. Diese Formel kann man ruhig streichen, weil gegenwärtig niemand daran denkt, Schlüsselindustrien zu verstaatlichen. Darum geht es gar nicht. Mir fehlt in dem Entwurf die Auseinandersetzung mit den neuen Herausforderungen, die ich auf die Gewerkschaften geradezu zwangsläufig zukommen sehe. Noch immer dominiert die bloße Betriebsbezogenheit der Gewerkschaftspolitik, und dabei gilt der Großbetrieb stillschweigend weiter als das Organisationszentrum. Doch diese Sicht ist nicht mehr haltbar. Es fehlt die Erweiterung des gewerkschaftlichen Interessenbegriffs auch auf außerbetriebliche Zusammenhänge und die Formulierung eines allgemeinen kulturellen Mandats. Darüber hinaus müßten die Gewerkschaften in ihrem Prgramm viel deutlicher ihr politisches Mandat für die Gesamtgesellschaft zum Ausdruck bringen und so etwas wie eine alternative Ökonomie für das Ganze entwickeln.

An Visionen für eine alternative Ökonomie mangelt es nicht nur dem DGB, sondern auch den linken Parteien und dem linken Wissenschaftsbetrieb. Überfordern Sie da nicht den DGB?

Der Mangel existiert tatsächlich überall. Ich halte ja auch nicht zuletzt deshalb ein neues DGB- Grundsatzprogramm gegenwärtig für unnötig. Auf der Grundlage von mehr oder weniger unzusammenhängenden Notizen ein Grundsatzprogramm zu formulieren, hilft keinen Schritt weiter, sondern jetzt wäre eine sehr umfangreiche Selbstverständigungsdebatte in den Gewerkschaften viel wichtiger.

Der Zeitplan sieht nun aber mal die Verabschiedung im November vor. Und nach dem Entwurf soll es im neuen Programm heißen, daß die soziale Marktwirtschaft „besser als andere Wirtschaftsordnungen geeignet ist, die Ziele der Gewerkschaften zu erreichen“. Dagegen laufen viele Gewerkschafter Sturm.

Dieser Satz ist auch Quatsch. Wenn die Gewerkschaften sagen, die Logik des Marktes und des Kapitals ist die entscheidende Realitätsmacht in unserer Gesellschaft, auf die wir Antworten finden müssen, dann ist das in Ordnung. Wenn sie aber sagen, diese Macht ist die einzige, an der wir unsere Perspektiven orientieren, dann geben die Gewerkschaften ihren eigenen Anspruch, für die Umorganisation der Gesellschaft zu kämpfen, auf. Die Folge ist, daß sie auch ihre Interessenbasis verlieren werden.

Zielt Ihre Kritik darauf ab, die gewerkschaftlichen Alternativen im Kapitalismus klarer zu formulieren, oder geht es Ihnen um die Alternativen zum Kapitalismus?

Mir geht es um beides. Ich betrachte nach wie vor diese Gesellschaft, in der ein Drittel der Bevölkerung nicht nur vom Wohlstand abgekoppelt ist, nicht als das letzte Wort der Geschichte. Die Gewerkschaften müssen Alternativen gegen diese Form des Kapitalismus entwickeln und dabei selbstverständlich die Potentiale des Kapitalismus zum Wandel nutzen. Das heißt, sie können sich nicht aus diesem System verabschieden und sich auf die Entwicklung theoretischer Alternativen stürzen.

Haben es die Gewerkschaften seit dem Fall der Mauer da nicht schwerer?

In gewisser Hinsicht schon, denn es ist ja kein Zufall, daß nach dem Zerfall dieser – wenn auch falschen – Gegenrealität die Ansprüche der Kapitalseite immer dreister werden. Allein die Existenz der untergegangenen bürokratischen Planwirtschaften hat den Kapitalismus domestiziert. Jetzt tritt das räuberische Element des Kapitalismus wieder offen zu Tage – auch im Rahmen der von Kapitalinteressen geleiteten Globalisierungsdebatte. Ich warne die Gewerkschaften davor, jetzt in diese Globalisierungsfalle zu tappen.

Die neuen Realitäten, den ungeheuren Druck auf die Hochlohnstandorte zu leugnen, hilft auch nicht weiter. Statt 50 Prozent steht heute fast 90 Prozent des weltweiten Arbeitskräftepotentials dem Kapital zur Verfügung.

Es geht nicht darum, die Augen vor den Realitäten zu verschließen, sondern ich wehre mich dagegen, daß die Gewerkschaften – wie schon einige Linke es tun – nur noch wie das Kaninchen auf die Schlange Globalisierung starren. Motto: Wenn wir nicht auf alles verzichten, dann gehen die Unternehmen weg. Wir ziehen uns ganz nackt aus, wir bieten uns noch als Opfer an, wir arbeiten doppelt soviel wie bisher – dann bleiben die Unternehmen hier. Das ist eine Täuschung. Mit einem Demutsverhalten laufen die Gewerkschaften bei den Mächtigen immer ins Leere. Das ist für die andere Seite geradezu eine Einladung zu zusätzlicher Plünderung und Agressivität. Unternehmer respektieren im Grunde nur mächtige Gewerkschaften – nicht ohnmächtige. Deshalb muß der Aufbau von Gegenmacht das wichtigste Ziel der Gewerkschaften sein. Und das muß sich auch im Programm niederschlagen.