: Deutsche Exportschlager
Immer öfter versorgen türkische Sänger aus Deutschland den Musikmarkt in der alten Heimat. Pop, HipHop und Schmalzballaden finden reißenden Absatz ■ Von Matrin Greve
Haydar Șahin steht in seinem Moabiter Musikladen und schaut auf die gigantische Kassettenwand: Türkische Popsänger, die in Deutschland aufgewachsen sind, sucht der Kunde. Natürlich die großen Stars: Tarkan, der kürzlich in den USA als erster Türke einen Plattenvertrag bei Atlantic unterzeichnet hat, kommt aus Frankfurt am Main; Rafet El Roman aus Darmstadt und Ahmet auch aus Frankfurt; Özcan Deniz, München; Candan Erçetin, Hanau.
Musikhändler Haydar denkt nach. Auch er hat Mühe, den türkischen Popmarkt noch zu überschauen. Woche für Woche neue Popstars mit neuer Musik und neuem Image. Iskender Paydaș lebt zwar in der Türkei, aber sein Vater hat in Berlin ein Lebensmittelgeschäft; Bendeniz ist aus der Schweiz. Oder Cemali, die beiden Brüder aus San Francisco, Özlem Tekin, die Tochter eines Turkologie-Professors in Berkeley...
Als Anfang der sechziger Jahre die ersten „Gastarbeiter“ aus dem anatolischen Hinterland nach Deutschland kamen, stand das Musikleben der Türkei kurz vor einem grundsätzlichen Wandel. Noch war so etwas wie Unterhaltungsmusik in den Dörfern Anatoliens praktisch unbekannt. Dort gab es kein Fernsehen, keine Plattenspieler und oft nicht einmal ein Radio. Musik mußte man selber spielen, sonst gab es keine. Ganz anders in den Großstädten: Schon im 19. Jahrhundert waren dort Operetten aufgeführt worden, später Tango und Foxtrott. Längst waren die Reste osmanischer Hofmusik zu Nachtklubliedern geworden, die auf Schellackplatten, später auf Singles und LPs verkauft wurden.
Neue Musikmischung „Arabesk“
In den sechziger Jahren trafen beide Sphären plötzlich aufeinander. Mit dem Aufkommen der billigen Musikkassetten wurde Musik auch für die ärmere Landbevölkerung bezahlbar, und auch der nun einsetzende rasche Ausbau des türkischen Fernsehnetzes exportierte städtische Kultur in die Dörfer. Auf der anderen Seite begannen die Bauern in die Großstädte zu wandern – sowie als Gastarbeiter nach Westeuropa. Der Musikmarkt paßte sich an, und mit „Arabesk“-Musik entstand eine Mischung aus anatolischer Volksmusik, städtischer U-Musik, europäischem Schlager und libanesischen Arrangements. Daneben freilich tauchten in den Städten erste Beat- und Rockpioniere auf: Erkin Koray etwa – bevor er als Gastarbeiter nach Deutschland ging –, Bariș Manco, der später in Belgien studierte, oder Cem Kraca, der ebenfalls in den achtziger Jahren in Deutschland lebte.
In Deutschland und seinen Nachbarländern hatten sich die „Gastarbeiter“ mittlerweile eingerichtet. Türkische Musikrestaurants waren entstanden, Hochzeitsbands sowie Saz- und Volkstanzkurse; Tourneen türkischer Sänger nach Deutschland wurden normal. In der Türkei überwucherte die Arabesk-Musik alle anderen Musikstile, selbst Politlieder wie von Ahmed Kaya oder modernisierte osmanische Kunstlieder etwa von Zeki Müren. Dabei war Arabesk offiziell unerwünscht und durfte im staatlichen Rundfunk und Fernsehen nicht gespielt werden: Allzu fatalistisch-orientalisch fanden türkische Kulturpolitiker die Texte. Arabesk war Musik für die ganze Familie, vom Teeny bis zur Großmutter. Wer Modernes hören wollte, hörte Madonna.
Geschäfte mit türkischer Volksmusik
Zwischen Deutschland und der Türkei bestand nun ein lebhafter Austausch. Nach dem Militärputsch 1980 waren überdies viele Musiker ins Ausland geflohen, Kurden wie Nizamettin Ariç oder die linke Așik-Sängerin Șah Turna. Einige kehrten nach einigen Jahren ganz oder für Konzertreisen in die Türkei zurück, andere blieben im Exil. Spätestens Ende der achtziger Jahre hatten sich im türkischen Musikleben bereits zahlreiche „Deutschländer“ eingeschlichen. Vor allem anatolische Volksmusik, längst im großen Stil vermarktet, kam häufig aus Deutschland – die Musik also, die die ersten Gastarbeiter in ihrer Jugend in ihren Dörfern erlebt hatten.
Haydar im Moabiter Musikladen ist plötzlich ganz in seinem Element. Wann fragt schon jemand nach Volksmusik, noch dazu ein Deutscher. Schon türmen sich Kassetten und CDs auf dem Tresen: Güler Duman (Hannover), Adil Arslan und Siddik Dogan (Berlin), Ihsan Güvercin (Köln), Sabahat Akkiraz, Neșet Ertaș, Ismail Hazar, Azer Bülbül... Oft weiß auch Haydar nicht, ob ein bestimmter Volksmusiker tatsächlich in Deutschland lebt oder nur besonders häufig auf Gastspielen hier auftritt.
In der Türkei freilich bahnte sich Ende der achtziger Jahre eine musikalische Revolution an. Popsänger wie Kayahan, Nilüfer und vor allem Sezen Aksu waren mittlerweile immer populärer geworden. 1991 gab Sezen Aksu mit „Hadi Bakalim“ den Startschuß für einen neuen Stil: Popmüzik. Schon machten sich Sezens Vokalistinnen selbständig: Sertab Erener – später auch ihr früherer Ehemann Levent Kolçak – sowie Așkin Nur Yengi. Dann deren Mitspieler Harun Kolçak, dann ihr Freund Ferda Anil Yarkin. Für die türkische Jugend war Arabesk plötzlich megaout.
West-Image der Musiker ist gefragt
1992 begann in der Türkei das Privatfernsehen und damit die Ära der Videoclips. In Istanbul schossen die Diskotheken aus dem Boden. 1994 hatte die Popwelle ihren ersten Höhepunkt erreicht. Während in Berlin die ersten türkischen Diskotheken Deutschlands eröffneten, wurde in der Türkei mit Tarken ein ehemaliger Gastarbeitersohn aus Deutschland zum absoluten Superstar – seinen Titelsong „Hepsi senin mi?“ hatte Sezen Aksu geschrieben.
Schon begannen türkische Manager bei Gesangswettbewerben in Deutschland nach weiteren Talenten zu suchen. Die Situation schien günstig: Einerseits dürstete der türkische Markt nach frischen Gesichtern, zumal solche mit West-Image, zum anderen war in der noch jungen Popmüzik stilistisch zwischen Technopop und Schmalzballaden praktisch alles möglich.
So gingen sie denn in die Türkei zurück und hatten Erfolg: Ahmet aus Frankfurt mit Soul, Rafet El Roman aus Darmstadt mit zarten, mediterranen Liedern. Als im Sommer 1995 Cartel abräumte, hatte sich nicht nur erwiesen, daß in der Türkei sogar HipHop zu verkaufen war, sondern daß türkische Stars ruhig im Ausland wohnen bleiben dürfen.
Schon versuchten sich Ünlü aus Pforzheim mit türkischem Nostalgie-Rock, Cankat aus Berlin mit George-Michael-Songs und in Holland Kubat mit einer höchst gelungenen Mischung aus allem. Überall in Deutschland basteln nun Bands an ihren Kassetten, um den türkischen Markt zu erobern: Largo, Yurtseven Kardeșler, ein neues Cartel, ein neuer Erci E., KanAk, Metafor, AF.
Haydar packt die Kassetten in eine Tüte und sortiert die übriggebliebenen ins Regal zurück. Hinter ihm öffnet sich die Tür zu einem kleinen Tonstudio. „Wir arbeiten gerade an meiner zweiten Kassette mit Volksmusik“, erklärt er zum Abschied. „Diesmal soll sie auch in der Türkei richtig herausgebracht werden, nicht nur für ein paar Bekannte, mit Plakaten, Werbung und allem.“
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