Viereinhalb freie Stunden mehr im Jahr

■ In Nordrhein-Westfalen entscheidet sich heute nacht möglicherweise der Einzelhandelsstreit um späte Arbeitszeiten. Strittig ist der Samstagszuschlag. Streikaufrufe in Berlin wurden teilweise nicht be

Berlin (taz) – Eigentlich geht es nur um viereinhalb Stunden. Viereinhalb Stunden Freizeit mehr pro Jahr für die drei Millionen VerkäuferInnen im deutschen Einzelhandel. Viereinhalb Stunden im Jahr machen nämlich die Zeitzuschläge aus, die jeweils für den ersten langen Samstag im Monat gewährt würden – wenn es nach dem Willen der Gewerkschaften ginge. Und genau diese Zeitzuschläge wollen die Arbeitgeber sparen. Gestern begannen die möglicherweise entscheidenden Tarifverhandlungen zum Ladenschluß in Nordrhein-Westfalen. Sie werden bis heute nacht fortgesetzt.

HBV-Chefin Margret Mönig-Raane gab sich optimistisch vor den Verhandlungen in Duisburg: „Ich weiß, daß es in Nordrhein- Westfalen eine Arbeitgeberseite gibt, die solche Konflikte lösen kann“, so Mönig-Raane zur Westfalenpost. „Beide Seiten sind das Hin und Her langsam satt“, erklärte auch Günther Wassmann, Tarifexperte in der Düsseldorfer Zentrale des Arbeitgeberverbandes HDE, gegenüber der taz.

Einen Tarifvertrag zum Ladenschluß, wie ihn die Tarifpartner in Rheinland-Pfalz schon abgeschlossen haben, will der Einzelhandel in NRW nicht übernehmen. Wie berichtet, haben sich die Tarifpartner in Rheinland-Pfalz über Zeitzuschläge von 20 Prozent für späte Arbeitszeiten geeinigt. Das bedeutet Freizeitzuschläge auch an den künftig vier langen Samstagen im Monat. Bisher gab es immer nur einen langen Samstag pro Monat, und der war zuschlagsfrei.

Daher fordern mittelständische Einzelhändler, daß die VerkäuferInnen künftig zumindest am ersten langen Samstag im Monat weiterhin ohne Zuschläge arbeiten sollen. Zeitzuschläge von 20 Prozent für die Zeit zwischen 14 und 16 Uhr, bezogen auf diese (ohne Vorweihnachtszeit) elf Samstage im Jahr, machen am Ende viereinhalb Stunden Freizeit mehr aus.

„Wenn die Arbeitgeber signalisieren, daß sie im Prinzip bereit sind, die zusätzliche Samstagsarbeit mit Zuschlägen zu versehen, wäre eine Einigung möglich“, so Tarifsekretär Jörg Wiedemuth aus der Gewerkschaftszentrale der HBV in Düsseldorf. Sollten die Arbeitgeber allerdings von vorneherein alle Samstagszuschläge grundsätzlich ablehnen, dürfte es nach Äußerungen von Wiedemuth auch bei den Verhandlungen in NRW keine Chance auf eine Einigung geben.

Eine grundsätzliche Ablehnung jeglicher Freizeitzuschläge für alle langen Samstage hatte die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gefordert. BDA-Geschäftsführer Fritz- Heinz Himmelreich hatte angekündigt, daß der Dachverband Samstagszuschläge bei längeren Ladenzeiten nicht für allgemeinverbindlich erklären werde. Damit müßten sich aber Geschäfte, die nicht im Arbeitgeberverband sind, auch nicht an die Zuschlagsregelungen halten. „Das gäbe eine Verbandsflucht“, so Ingo Schwope, Sprecher der Angestellten-Gewerkschaft DAG. Immerhin 70 Prozent der Einzelhandelsbeschäftigten arbeiten noch in tarifgebundenen Unternehmen. Die Allgemeinverbindlichkeit wird in regionalen oder Bundestarifausschüssen festgelegt. Dort sitzen auch BDA-Vertreter.

Neben dem Streit um die Arbeitszeiten spielten gestern in Duisburg die Ausnahmebestimmungen für Spätarbeitende eine Rolle. Nach dem Pfälzer Abschluß müssen VerkäuferInnen dann nicht spät arbeiten, wenn sie Kinder unter 15 Jahren haben oder sich der Heimweg durch schlechte Busverbindungen um mehr als eine halbe Stunde verlängern würde. Auch wer „öffentliche Ehrenämter“ innehat, an Weiterbildungen teilnimmt, etwa zum „persönlichen Fortkommen“ in Volkshochschulen, kann sich von der Spätarbeit freistellen lassen.

Die Tarifpartner in den anderen Ländern rechnen hier mit Modifikationen: Denkbar wäre es, daß die Verhandlungspartner den Begriff der Weiterbildung enger definieren oder die Kinder-Altersgrenze für freigestellte Eltern herabsetzen. „Hier wird man schon zu einer Einigung kommen“, hieß es gestern bei der Arbeitgeberseite. Ein Abschluß in Nordrhein-Westfalen könnte Modellcharakter für die Tarifgespräche in den anderen Bundesländern haben.

An den punktuellen Streiks in mehreren Bundesländern beteiligten sich gestern gerade mal 500 Beschäftigte. Ein Streikaufruf in 15 Lebensmittelgeschäften in Berlin wurde erst gar nicht befolgt. In der Branche mit vielen Teilzeitverkäuferinnen und Pauschalkräften sind weniger als 15 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Barbara Dribbusch