Russen drohen Grosny Einsatz aller Waffen an

■ Ultimatum löst eine Massenflucht in der tschetschenischen Hauptstadt aus. Alexander Lebed bezweifelt Teilnahme von Präsident Jelzin an der Entscheidung

Moskau (taz) – „Ich halte Gewalt für den einzigen Ausweg aus der Situation in Grosny“, sagte der Kommandeur der russischen Truppen in Tschetschenien, Konstantin Pulikowski. Bereits am Montag abend hatte er den Rebellen überraschend ein Ultimatum gestellt. Sollten sie die Stadt nicht bis Donnerstag früh räumen, würde die Armee mit allen zur Verfügung stehenden Waffenarten die Stellungen der Freischärler angreifen. Die Zivilbevölkerung forderte er auf, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Ganz Grosny sei auf der Flucht, berichteten gestern Augenzeugen, nachdem schon in der Nacht zuvor Kampfflieger südliche Vororte Grosnys bombardiert hatten. Von verschiedenen Stellen wurde massiver Artilleriebeschuß gemeldet.

Die neuen Kampfhandlungen genießen offenkundig die volle Unterstützung von Präsident Jelzin. Pulikowski verkündete das Ultimatum kurz nachdem Jelzins Sondergesandter Alexander Lebed von seinem Dienstherrn den Auftrag erhalten hatte, „das System von Gesetz und Ordnung wiederherzustellen“, das vor der Einnahme der Stadt durch die Freischärler bestanden habe. Das entspricht einer offenen Kriegserklärung. Lebeds Friedensbemühungen wurden damit zunichte gemacht.

Unterdessen meldete der Sicherheitsrat, dem Lebed vorsitzt, gestern Bedenken an: „Der Inhalt der Dokumente läßt berechtigte Zweifel aufkommen, ob der russische Präsident an der Endfassung des Ukas direkt beteiligt war.“ Versuche, die Order umzusetzen, würden die Friedensbemühungen und den erzielten Waffenstillstand torpedieren, heißt es in einer Stellungnahme des Sicherheitsrats. Der Original-Ukas sei nur mit einer Faksimileunterschrift des Präsidenten versehen und zudem ohne Lebeds Wissen vorbereitet worden. Das widerspreche dem üblichen Procedere. Alexander Lebed hält an einer friedlichen Beilegung des Konflikts fest und plant, heute erneut in den Kaukasus zu reisen.

Unterdessen wandte sich auch der tschetschenische Unterhändler, Kommandeur Aslan Maschadow, mit der Bitte an Exgeneral Lebed, all seinen Einfluß zu nutzen, um den „nahenden Wahnsinn aufzuhalten“, der unweigerlich in eine Sackgasse führe. Die Rebellen scheinen indes den Drohungen der Russen gelassen entgegenzusehen. Sie befinden sich in stärkerer Position. Selbst ein Flächenbombardement bedeutet für sie noch nicht das Ende. Zuvor würden Hunderte, wenn nicht Tausende russische Soldaten fallen, hieß es aus Guerillakreisen.

Derweil plant Boris Jelzin einen zweitägigen Urlaub im 350 Kilometer nördlich von Moskau gelegenen malerischen Waldeigebiet. Unter anderem soll die Gegend wegen eines kardiologischen Therapiezentrums in Insiderkreisen empfohlen werden – ist der Präsident also doch ernsthaft erkrankt?

Das Verteidigungsministerium bestätigte gestern, daß ein Ukas in Vorbereitung sei, wonach Kommandeur Pulikowski von seinem vor wenigen Wochen in den Zwangsurlaub geschickten Vorgänger Wjatscheslaw Tichomirow abgelöst werden soll. Tichomirow gilt zwar als ein Vertrauter Lebeds, aber auch als Bluthund.

Klaus-Helge Donath Seite 9