„Welche Hölle gibt's nach dem Tod noch?“

■ Er hatte weder Lust, lustig zu sein, noch schweren Mutes alten Zeiten nachzutrauern: Rio Reiser über Johanniskrauttee, das Erbe der Scherben, Himmel, Hölle und die Revolution

Im März 1995 veröffentlichte Rio Reiser seine letzte CD „Himmel und Hölle“. Wir drucken hier noch einmal das Interview, das er der taz zu diesem Anlaß auf seinem Bauernhof in Fresenhagen nahe der dänischen Grenze gab.

taz: Deine neue Platte klingt ja ganz schön düster.

Rio Reiser: Sie ist in der Tat weniger lustig. Ich hatte einfach keine Lust, eine lustige Platte zu machen. Die meisten halten mich immer völlig zu Unrecht für eine Art Hofnarr. Außerdem leben wir ja nun mal momentan nicht tralala in den lustigsten Zeiten. Da kann man nur versuchen, diese Stimmung aufzunehmen. Das war ja bei den Scherben schon genauso.

Himmel und Hölle – beides auf einmal oder alternativ?

Das ist eine reine Standortbestimmung, mit dem Tod oder dem Danach hat das nichts zu tun. Was kann uns denn auch noch Schlimmeres passieren, in welche Hölle sollten wir denn nach dem Tod noch geraten?

Und wo bleibt der Himmel?

Die schönen Seiten des Lebens, der Hedonismus, das KaDeWe, die Lebensmittelabteilung. Nein, im Ernst, vielleicht ist der Himmel ja die Abwesenheit der Hölle.

Mir tut der Mensch, der da singt, leid.

Das kannste dir sparen, so schlimm ist es nicht. (lacht) Na gut, das ist die Frage, wo bleibt der Himmel, wo bleibt die gute Laune. Aber es ist ja nun auch kein finsterer Grunge. Ich singe düstere Inhalte ja mit einem Lächeln.

Dann ist es zynisch.

Es ist nicht zynisch, sondern das Gefühl, daß man darüber wegkommt.

Die Platte endet mit dem Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute.“ Ist mit dem „Wir“ die „Bewegung“ gemeint?

Das kannste so deuten, aber auch anders. Ich habe es nun mal gern vieldeutig, solange es nicht nach hinten losgeht.

Kommt die Revolution noch?

Vielleicht nicht so, wie wir es uns vor 20 Jahren vorgestellt haben, aber in irgendeiner Form muß sie ja kommen. Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig. Sonst geht der ganze Planet flöten, und das Schlimme ist, daß wir das noch erleben werden. Sonst könnte man ja – wenn man ganz übel drauf wäre – sagen, das erleben nur unsere Enkel, scheiß auf die Enkel. Die Chancen stehen nicht besonders gut, aber es gibt noch eine winzige Hoffnung, zumindest das Allerschlimmste zu verhindern.

Der ungestüme, etwas naive Aktionismus aus Scherben-Zeiten ist einem Analysieren gewichen. Hast du resigniert?

Ich kann einfach bestimmte Sachen nicht mehr machen. Die Phase, in der ich wie zu Scherben- Zeiten einfach drauflos machen konnte und wollte, ist momentan vorbei. Wir wollten damals aufrütteln, wachmachen – und was rauchen. Auch das ist vorbei, meine momentane „Droge“ ist Johanniskrauttee. Das bringt's, das ist ein leichtes Halluzinogen. (lacht) Trotzdem finde ich es toll, wenn andere Leute weiterhin solche Dinge initiieren. Um so besser, wenn Musik stattfindet, unabhängig von der Plattenindustrie, Großveranstaltungen und Medien.

Beispiel wäre das Aufkeimen einer neuen Pop- und Rockgeneration in Deutschland. Bist du Wegbereiter von Bands wie Blumfeld?

Viele von denen sagen, daß die Scherben oder Rio Reiser für sie wichtig waren, das freut mich; aber es würde mich auch freuen, wenn sie es nicht sagen würden, weil mir einfach die Musik gefällt. Ich glaube, daß ich eher in einem Austausch mit diesen Bands stehe, als etwa ein Westernhagen.

Trotz allem Austausch klingen deine Songs eher depressiv.

Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß ich keine Depressionen hätte. Nicht permanent, aber ich komme eben nicht drumrum. Ich bin im Moment eher wackelig. Trotzdem ist die Platte nicht aus reiner Depression entstanden.

Bist du in einer Phase, in der du verstärkt über das nachdenkst, was war und was noch werden kann? Nicht zuletzt die Arbeit an deiner Autobiographie zwang dich ja dazu. Bist du also in der Midlife- crisis?

Was gewesen ist, ist vorbei, ein Großteil ist für mich abgeschlossen. Meine Vergangenheit interessiert mich im Moment nicht so besonders. Mich interessiert die Gegenwart und nicht so sehr meine Zukunft, sondern unsere gemeinsame Zukunft.

Also landet man zwangsläufig noch einmal beim Ansatz der Scherben.

Natürlich, klar. Ich habe auch gar nichts dagegen, aus diesem Fundus zu schöpfen. Aber ich lasse einfach gern alles auf mich zukommen. Sollen die anderen doch planen. Wenn ich mich diesem Diktat unterwerfe, dann mache ich vielleicht den Hampelmann, bin nach außen hin lustig, laufe durch Talkshows und bin sehr charmant und eloquent, wie es von mir verlangt werden würde. Aber wenn mir jemand ein Mikrophon hinhält und sagt, Rio, du hast ja eine neue Platte gemacht, sage ich weiterhin am liebsten einfach nur ja. Die Freiheit nehme ich mir, hahaha. Sonst kann ich nicht mehr existieren. Das Gespräch führte

Benjamin von Stuckrad-Barre