■ Rio Reiser, Sänger und Frontmann von Ton Steine Scherben, starb am Dienstag im Alter von 46 Jahren. Seine Band galt in den 60er und 70er Jahren als gefürchtetste Gruppe der Republik, doch Rio der I. war zugleich verträumter Einzelgänger
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Rio Reiser, Sänger und Frontmann von Ton Steine Scherben, starb am Dienstag im Alter von 46 Jahren. Seine Band galt

in den 60er und 70er Jahren als gefürchtetste Gruppe der Republik, doch Rio der I. war zugleich verträumter Einzelgänger

Lange Reise ans Ende der Macht

Singen konnte er nach eigener Einschätzung nicht, aber wild und gefährlich klang es meist schon, wenn Rio Reiser seine Texte ins Mikrophon räusperte: „Wir haben keine Angst zu kämpfen, denn Freiheit ist unser Ziel...“ Hinter ihm Ton Steine Scherben, die Band, die noch heute jeder liebt für solche Sätze. Berliner Lokalkosmopoliten, Frontstadtkapelle – genau die Art von Leuten, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Wie sie damals die Hausbesetzerbewegung erfanden, indem sie mit Sound vom Lkw aus die Party in den Politaktivismus trugen, wie sie (ausgerechnet) der RAF ein Lied namens „Keine Macht für niemand“ schrieben und „Schmidt und Press und Mosch“, längst vergessene Lokalpolitiker, per Song „aus Kreuzberg raus“schmeißen wollten – das ist der Stoff für Legenden um die gefürchteste Band der Republik. Dabei war Rio Reiser, der vorgestern in seinem Refugium Fresenhagen gestorben ist (an „inneren Blutungen“, wie es heißt), alles andere als ein Held. In seinen vor zwei Jahren erschienenen Memoiren steht ein Satz, der sich als Lebensmotto verstehen läßt: „Wer gut singt, braucht nicht zu befürchten, eins auf die Nuß zu kriegen.“

Und so sang er halt immer, so schön er konnte, der Mann, der eigentlich Ralph Möbius hieß und sich nach „Anton Reiser“, Karl Philipp Moritz' „psychologischem Roman“ von 1796, nannte. Ein sprechender Name: Er paßt zu dem dritten Sohn eines aus Berlin stammenden Handlungsreisenden, zu den häufigen Umzügen der Familie, zur ausschweifenden Phantasie des Jüngsten; es paßt auch zu Reisers langer Suche nach seiner geschlechtlichen Identität. „Komm, schlaf mit mir“ heißt ein berühmtes Stück Schmuserock. Auch das hatten die Scherben drauf, doch nur wenige, die in den Siebzigern damit ins Hochbett stiegen, ahnten, daß sie da schwulem Sehnsuchtsgesang lauschten. „Schwulsein war bei den Linken nicht en vogue“, hat Reiser selbst später trocken konstatiert.

Nicht umsonst reimt sich in den von Reiser getexteten Songs „Saarbrücken“ auf „unterdrücken“: Nur aus der bizarr umgeleiteten Libido eines verträumten Einzelgängers ist zu begreifen, daß die Scherben-Songs neben ihrer militanten Seite immer auch das Private am Politischen herausstellten. Eine Ausnahme im Endsechzigertreibhaus der marxistischen Begriffe, die im 68er-Deutschland bekanntlich mit der Strenge einer Oberlehrerverschwörung gehandhabt wurden. „Kommt zusammen, Leute / Lernt Euch kennen / Du bist nicht besser als der neben dir / Keiner hat das Recht / Menschen zu regieren“ – das stammte eher aus der Tradition des Urchristentums, zu dessen Nachfolge Rio Reiser sich zeit seines Lebens bekannte – aber unorthodox!

Nichts schließt sich in den Scherben-Texten der Endsechzigerhochphase, der Gründungsstunde des deutschen Antiautoritarismus, wirklich aus: RAF und Kifferblues, Küchentisch und Straßenfest, Orgasmusschwierigkeiten und Produktionsverhältnisse, Karl May und Karl Marx, selbst knallharter Agitprop und das kleine Jesulein, mit dem Reiser sich ganz tief drinnen solidarisch gefühlt haben muß: „Ich bin tausendmal verblutet / Und sie haben mich vergessen / Ich bin tausendmal verhungert / Und sie war'n vollgefressen“ – das ist natürlich volle Kanne das Leiden Christi.

Lange hielt diese prekäre Einheit der Widersprüche nicht. „Anfang 1974 drehte sich der Wind. Auf der einen Seite sammelten sich Pharisäer und Schriftgelehrte in immer neuen Buchstabenkürzeln und -kombinationen“, schreibt Reiser in seinen Memoiren. Der Sieg der Begriffsritter in der antiautoritären Bewegung war auch der Beginn einer Krankheit zum Tode für Ton Steine Scherben. 1985 beendeten sie ihre gemeinsame Karriere, nicht ohne einen Schuldenberg von einer halben Million zu hinterlassen.

Reiser versuchte sich fortan, sicher auch unter ökonomischem Druck, als „König von Deutschland“, der in Zeiten der Neuen Deutschen Welle auch ein wenig vom Kuchen abhaben wollte. Der Soundtrack zur Revolte war das nicht gerade, aber es ist Rio auch nicht gelungen, wirklich schlechte Platten zu machen; seine PDS- Mitgliedschaft blieb ohne realpolitisches Engagement, und einer Scherben-Kommerz-Reunion hat er sich zeitlebens verweigert.

„Himmel und Hölle“ hieß seine letzte Platte, und das war mehr als ein flott klingender Titel. Daß es Reiser in den letzten Jahren nicht sehr gut ging, wußten alle, die ihn auf seinem Bauernhof besuchten. Ob er sich blicken ließ, war Glückssache, oft verkroch er sich für Tage in seinem mit Erinnerungsstücken und Steiff-Tieren vollgestopften Zimmer – angeblich mit Johanniskrauttee als einziger Droge. „Ich bin im Moment eher wacklig“, verriet er im letzten Jahr im Interview mit der taz (siehe unten), und kam fürs große Ganze zu der Einschätzung: „Vielleicht ist ja der Himmel die Abwesenheit der Hölle.“

Das ist negative Dialektik; und irgendwie stimmt es immer noch: Was wir brauchen, gibt's nicht zu kaufen. Thomas Groß