Opern in kleinem Rahmen groß machen

■ Ein neues Ensemble! Der Verein „Blaue Oper 96“: professionell und euphorisch

Der Regisseur ist erstaunt. Woher sie denn den Mut hätten, gerade jetzt in Berlin ein neues Opernprojekt anzuleiern, hatte ich gefragt. „Aber doch gerade jetzt!“ ruft Joachim Rathke enthusiastisch. Gerade weil die Strukturen der anderen Opernensembles immer mehr verkrusten würden, hätten sie sich zusammengetan. Gerade weil Oper oft so langweilig sei, müsse etwas anderes, eigenes her. Und weil man für einen Verein nicht mehr als sieben Mitglieder braucht, die Neuköllner Oper ihre Bühne anbot und es die Beteiligten zu Taten drängte, ging alles sehr schnell. Beinahe über Nacht bekommt die Berliner Kulturlandschaft Zuwachs: die „Blaue Oper 96“.

Nun ist der Anspruch, jenseits der vielbeschworenen versteinerten Strukturen „anderes“ Musiktheater machen zu wollen, natürlich nichts Neues. Unzählige Off- Produktionen hat es in den letzten Jahren gegeben, Art-Opern und Barockopern, große Opern, Mini- Opern, Plastik-Opern.

Der American way

Doch an Selbstbewußtsein mangelt es dem Team nicht. Während andere Ensembles den Hahn staatlicher Zuwendung langsam zugedreht bekommen, setzt die Blaue Oper, unterstützt von Sponsoren und anderen kulturellen Einrichtungen wie die Berliner Kammeroper und dem Kino Arsenal, auf den „American way“. Daß sie sogar eigenes Geld in das Projekt buttern würden, erzählt der Dramaturg Lutz Dittrich stolz. Und daß sie das in der Überzeugung täten, die „eigene Oper nicht nur zu erträumen, sondern zu verwirklichen“.

Schön und gut. Doch was ist das eigene an der Blauen Oper? Die Antworten klingen noch ein wenig lahm. „Innovative Ideen“ wollen sie verwirklichen und dabei „offen und ehrlich“ mit den Werken umgehen. Soll das alles gewesen sein?

Während die Programmatik des Vereins noch nicht sehr ausgefeilt daherkommt, unterscheidet sich die Blaue Oper aus der Distanz betrachtet durchaus von manch dubioser Konkurrenz. Zum einen ist die musikalische Qualität der Beteiligten über alle Zweifel erhaben. Das ist nicht weiter verwunderlich: Die meisten von ihnen sind an deutschen Staatsbühnen engagiert, Regisseur Joachim Rathke verdient sein Geld als Spielleiter der Oper in Frankfurt am Main.

Zum anderen hat das Leitungsteam den Anspruch, „große Opern zu verkleinern“, Werke, die sonst nur im großen Saal, mit riesigem Orchesterapparat und großem Aufwand inszeniert werden könnten, mit Kammerensemble oder Klavieren auch für anderes Publikum attraktiv zu machen. „Verkleinern ist vielleicht ein schlechter Ausdruck“, sagt Joachim Rathke verlegen, „ich nenne es mal lieber: große Oper in kleinem Rahmen groß zu machen.“

Doch das bringt die Ambivalenz des Vorhabens auf den Punkt. Braucht eine Oper, sofern nicht ausdrücklich als Kammeroper komponiert, nicht den großen Saal, den größenwahnsinnigen Entwurf? Zum Beispiel Herzog Blaubart. Die einzige Oper Béla Bartóks aus dem Jahre 1911 soll zusammen mit Debussys „La Chute de la Maison Usher“ zum Debüt des jungen Vereins gespielt werden. Sie lebt von den Klangfarben des Orchesters – stärker als von der Szenerie. Wenn sich die Türen zu Blaubarts Herzkammern öffnen, ist das, was an ungeahnten Geheimnissen zu hören sein wird, der Imagination durchs Auge allemal überlegen.

Genau das aber glaubt der musikalische Leiter, Marius Stieghorst, auch in verkleinerter Fassung bewahren, mehr noch, von der Not in eine Tugend verwandeln zu können. „Ich will unsere Klavierfassung gar nicht mit der Orchesterfassung vergleichen“ sagt er. „Die Oper wird zu etwas ganz anderem, etwas Neuem, und gerade das ist ungeheuer spannend.“ Spannend auch, was passiert, wenn das Publikum die Fassungen eben doch vergleicht.

Schwarzer Debussy

Es ist eine nette Paradoxie, daß die hoffnungsvolle Truppe in ihrer erste Saison ausgerechnet mit zwei Stücken startet, die von desaströsen Untergängen handeln. Denn so wie bei Herzog Blaubart, so ist auch die Geschichte vom Fall des Hauses Usher (wer kennt sie nicht), eine Geschichte der Degeneration; eine Geschichte, in der Vergangenheit als übler Traum erscheint, in dem die Protagonisten wie in einem trüben Tümpel endlos fischen. Ob die Auswahl der Stücke programmatisch sei? Der Regisseur verneint. „Ehrlich gesagt, habe ich erst während der Arbeit gemerkt, wie schwarz der Debussy eigentlich ist.“ Eine Aussage über den Zeitgeist sei damit aber nicht intendiert. Wichtiger sei es, Debussys fragmentarisches Werk, das der Komponist Juan Allende Blin in jahrelanger Kleinarbeit zusammengetragen hat, möglichst genau zu rekonstruieren.

Das Team der Blauen Oper ist auf der Suche nach der wahren, der authentischen Oper. „Wir werden versuchen, unprätentiös, möglichst offen und ehrlich mit der Literatur umzugehen.“ Kein Wunder, daß es bei all der Offenheit, bei allem experimentellen Wagemut noch ein bißchen mit der Selbstdefinition, mit dem Entwurf eines eigenen Profils hapert. „Wo genau das einmal hingehen wird, wissen wir noch nicht“, sagt Rathke, und selbst das klingt seltsam selbstbewußt. Und warum auch nicht? Offenheit als Programm und Wagemut als Profil: Es ist der Blauen Oper zu wünschen, daß sich das einlösen läßt. Auch der „Verkleinerung“ ließe sich dann so manches abgewinnen, eine neue Perspektive, ein anderes Publikum, das die offenen Fragen mit Spannung erwartet.

Zimperlich im Anspruch sind alle Beteiligten jedenfalls nicht: „Große Oper, in kleinem Rahmen groß zu machen“ – an dem Motto wird sich die Blaue Oper 96 in Zukunft messen lassen müssen. Christine Hohmeyer

Premiere am 28. 8., weitere Aufführungen 29. bis 31.8, 1. 9., jeweils 20 Uhr. Neuköllner Oper Berlin, Karl-Marx-Straße 131–133