6-3-1-0 Von Klaudia Brunst

Wir hatten Schulsport. Und ich hatte meine Tage und durfte deshalb auf der Bank sitzen und auf die Wertgegenstände aufpassen, die man nicht in der Umkleidekabine läßt. Und da saß ich also und langweilte mich – und setzte mal einfach so die Brille von meiner Mitschülerin Maria auf. Und siehe da! Plötzlich sah ich ganz anders. Besser, irgendwie.

Weil Marias Eltern darauf bestanden, daß ihre Tochter mir ihre Sehhilfe nicht schenkt (sie hatte mir das großherzig angeboten), mußte ich also eine eigene Brille kaufen – und damit fing alles an.

Nicht daß ich etwas dagegen habe, eine Brille zu tragen. Aber an die Untersuchungen beim Augenarzt habe ich mich bis jetzt noch nicht gewöhnen können. Blutabnehmen, Spritzen, Holzstäbchen im Rachen – alles kein Problem. Aber Augenarzt? Ein Horror.

Es geht damit los, daß sie einen auf einen viel zu kleinen Hocker setzen, ein gefaltetes Papier zwischen Brillenglas und Auge stecken und einen dann Zahlenkolonnen auflesen lassen: 6-7-2-0. „Ja, sehr gut. Und jetzt die untere Reihe, bitte.“ Da geht es dann schon los. Der Zettel piekst im Auge, das fängt an zu tränen, die Zahlen verschwimmen... 5?-3?-7?-9? Kann ich mal ein Taschentuch haben? Ich habe schon alles mögliche ausprobiert. Aber wenn man sich das Auge zuhält, dann bekommt es zuviel Druck ab. Und dann tränt es auch. Wenn man sich darauf konzentriert, das Lid geschlossen zu halten, will das andere Auge auch nicht mehr aufbleiben. Es ist furchtbar. Dann wird man in das nächste Gerät eingespannt. „Keine Angst“, säuselt die Sprechstundenhilfe. „Da kommt jetzt so ein Luftstrahl. Das ist ein bißchen so, als würde Ihnen jemand etwas ins Auge schießen. Sie dürfen das Auge aber nicht spontan schließen. Sonst wird die Messung falsch.“ Kunststück! Ins Auge schießen – können die das nicht wenigstens etwas pazifistischer formulieren?

Kurz und gut: Wenn ich dann endlich ins Sprechzimmer komme, bin ich schon fix und fertig. Schweißgebadet nehme ich vor dieser Riesenbrille Platz. „Sie müssen ihr Kinn ganz nah randrücken, sonst wird die Messung falsch.“ Und dann drücke ich das Kinn ran und komme immer mehr ins Schwitzen (jetzt nur nichts falsch machen, dann war alles umsonst). Und dann kommt das, wovor ich immer am meisten Angst habe: Das „Ist es so besser oder so?“

Menschen ohne Brille können sich das gar nicht vorstellen. Da sitzt man also da, das Kinn so eng an dem Monstergerät, daß es pausenlos beschlägt, und dann klappen sie ihre Gläschen runter und lassen einen immer wieder diese zwei gleichen Zahlenreihen lesen (6-7-2-0. „Ja, sehr gut. Und jetzt die untere Reihe, bitte.“ 5?-3?-7?-9?) Und dann kommt's! Klapp, klapp. „Ist es jetzt besser?“ 6-7-2-0. „Ja, sehr gut. Und jetzt die untere Reihe, bitte.“ 6?-3?-1-0?? „Ja, sehr gut.“ Klapp, klapp. „Ist es so besser...(6-7-2-0. 5?-3?-7-9? klapp, klapp) oder so?“ 6-7-2-0. 6?-3?-1- 0? Klapp, klapp. „So besser?“ 5-3- 1-9. „Oder so?“ 6-3-1-9. „So? Oder so? Jetzt besser? Oder so besser? Klapp? Oder klapp? Und jetzt? 6-3-7-0? Oder 5-3-1-9? 6 oder 5? 7 oder 1? 0 oder 9? „Danke, das war's. Sie können sich jetzt wieder ihre Brille anziehen.“ Und dann sieht man wieder klar. Aber das Dia mit den Zahlen ist natürlich schon weg. War es jetzt eine Sechs? Oder eine Fünf?