Alte Gewißheiten gedeihen im neuen Südafrika

■ Geschichtsunterricht vor der Wahrheitskommission: Für Expräsident de Klerk war die Apartheid gut gemeint, für den ANC war der bewaffnete Kampf notwendig

Kapstadt (taz) – Es war ein Lehrstück über die schwierige Suche nach der „Wahrheit“. Seit Montag dieser Woche hört die südafrikanische Wahrheitskommission erstmals die politischen Parteien im Land an, die jeweils pauschale Erklärungen über ihre politischen Ziele, Taktiken und Strategien während der Apartheid-Zeit vorlegten. Nach der Aussage des letzten weißen Präsidenten Südafrikas, Frederik Willem de Klerk, für die ehemaligen Machthaber in der „Nationalen Partei“ (NP) am Mittwoch trat gestern für die ehemalige Befreiungsbewegung „Afrikanischer Nationalkongreß“ (ANC) Vizepräsident Thabo Mbeki vor die Kommission. An beiden Tagen war das „Zentrum der Guten Hoffnung“ in Kapstadt bis auf den letzten Platz belegt.

Art und Inhalt der jeweiligen Präsentationen ähnelten sich insofern, als es in beiden ausführlich um die historischen Umstände von Menschenrechtsverletzungen ging. Damit enden die Gemeinsamkeiten jedoch auch schon – sieht man davon ab, daß sich beide Seiten formal entschuldigt haben.

Für die NP legte de Klerk eine 30seitige Erklärung vor, in der zwar zugegeben wird, daß Menschenrechtsverletzungen begangen wurden; man müsse allerdings den historischen Kontext verstehen. Die Rassenideologie der Apartheid, euphemistisch als „getrennte Entwicklung“ bezeichnet, die als politische Legitimation für die Unterdrückung und Verfolgung von Millionen diente, wird in der Erklärung erneut damit begründet, daß sie nur zum Besten auch der Schwarzen gedient habe. Das Vorgehen der weißen Regierung rechtfertigte de Klerk mit den sattsam bekannten Denkmustern. Man habe im Glauben gehandelt, den weltweiten Vormarsch des Kommunismus verhindern zu müssen, und gegenüber habe eine „revolutionäre Bewegung“ gestanden, die gemeinsam mit ihren sowjetischen Verbündeten, den Vereinten Nationen und den internationalen Anti-Apartheid-Organisationen gegen die Regierung kämpfte.

Weder die Regierung noch andere staatliche Institutionen hätten jemals einen offiziellen Beschluß gefaßt, der Mord, Folter und gewaltsame Übergriffe für legal erklärte, so de Klerk, und auch er selbst sei nie an derartigen Entscheidungen beteiligt gewesen. Von gezielten Morden habe die Regierung nichts gewußt, und auch die Mehrzahl aller Beschäftigten in den Sicherheitskräften seien „ehrenwerte und professionelle Männer und Frauen“ gewesen, die ihre Sache für gerecht hielten.

Nach Einzelheiten über seitens der Apartheid-Regierung begangene Verbrechen sucht man in dem NP-Dokument vergeblich. Die seien, so De Klerk, ja auch hinlänglich bekannt. Dafür werden die der Befreiungsbewegung exakt aufgelistet: 541 Fälle von „Halskrausen“ (mit Benzin gefüllte Autoreifen, die Menschen umgehängt und dann angezündet wurden), 57 Angriffe mit Landminen, 10 Autobomben und so fort.

Wer Zahlen über Menschenrechtsverletzungen des Regimes sucht, muß im gestern vorgelegten ANC-Dokument blättern. Allein während des fast permanenten Ausnahmezustandes in den späten 80er Jahren wurden demnach 80.000 Menschen ohne Gerichtsverhandlung verhaftet, darunter 15.000 Kinder. 10.000 wurden in der Haft gefoltert, mehr als 70 kamen dabei ums Leben.

Auch in der mehr als 100seitigen Erklärung des ANC nimmt der historische Kontext breiten Raum ein, aus dem heraus erklärt wird, wie es 1961 nach dem Verbot der Organisation zur Entscheidung über den bewaffneten Kampf kam. Die Apartheid-Regierung sei von der UNO als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden und habe jahrzehntelang alle Versuche blockiert, auf friedlichem Wege mehr Rechte für die Bevölkerungsmehrheit zu gewähren. „Unter diesen Umständen hatten wir nur die Wahl, aufzugeben oder zu kämpfen.“ Ohne die Entscheidung zum bewaffneten Kampf, so der ANC, wäre Südafrika heute nicht frei.

Mit besonderer Spannung war erwartet worden, inwieweit sich der ANC den von ihm begangenen Menschenrechtsverletzungen wie etwa Angriffen auf Zivilpersonen und Folter und Mord in seinen Exillagern stellen würde. Im Bericht wird nun zwar unterstrichen, daß Terror nie als Mittel des Kampfes angesehen wurde, doch wird eingeräumt, daß es „Exzesse“ gab und dabei Unschuldige ums Leben kamen. Die Partei übernehme kollektiv die Verantwortung und bedauere zutiefst alle zivilen Opfer, auch wenn derartige Angriffe nie von der politischen Führung legitimiert worden seien. Einige prominente Fälle wie ein Bombenattentat in Durban im Jahr 1986, bei dem drei Menschen getötet und fast 70 verletzt wurden, werden ausführlich dargelegt. „Der ANC rechtfertigt solche Angriffe nicht, besteht aber darauf, daß der Kontext wichtig ist.“ Beigefügt ist eine umfangreiche Dokumentation von Untersuchungsberichten, in denen etwa Einzelheiten über die Exillager nachzulesen sind.

Allerdings bleibt der ANC dabei, daß der „gerechte Kampf“ gegen das Apartheid-Regime moralisch und rechtlich nicht dessen „ungerechtem Krieg“ gleichzusetzen sei. Diese Sicht lehnt die NP strikt ab. Auch im neuen, versöhnten Südafrika gibt es zwei gegensätzliche Versionen der Vergangenheit. Kordula Doerfler