„Der Körper erinnert sich lange“

■ Bremer GynäkologInnen wollen Mißbrauchs-Opfern besser helfen / Fortbildungsreihe beginnt

Heute beginnt eine Fortbildung für Bremer GynäkologInnen. Das Thema ist für medizinische Fortbildungen noch relativ neu – es geht um Folgen sexuellen Mißbrauchs gegen Mädchen und Frauen. Angeschoben hat die Veranstaltung die Frauen-Gleichstellungsstelle (ZGF). Dagmar Erwes, Oberärztin in der Heines-Klinik, leitet die Tagung.

Frau Erwes, was müssen GynäkologInnen über sexuellen Mißbrauch eigentlich noch lernen?

Dagmar Erwes: Sicher noch eine ganze Menge. Es geht dabei weniger um das Wissen, daß sowas passiert. Das ist ja in der Öffentlichkeit allgemein bekannt und wird manchmal leider auch sehr breitgetreten. Es geht für niedergelassene KollegInnen eher darum, zu spüren und zu erkennen, wie sich die Folgen sexueller Mißhandlungen, sei es Inzestgeschehen in der Kindheit oder Vergewaltigungen später, niederschlagen. Das heißt, ÄrztInnen müssen aufmerksam für Spuren werden, die im Körper bleiben – und zwar nicht als tatsächliche Verletzung. Man muß wissen, daß der Körper sich in Form von Schmerzen und schweren Funktionsstörungen langfristig erinnert.

Auf welche Beschwerden müssen GynäkologInnen ein besonderes Augenmerk haben?

Jedes Innere Organ kann sich melden – mit Entzündungen in allen Bereichen beispielsweise. Manchmal sind die Beschwerden diffus. Aber vor allem hat diese Störung nicht irgendeine Ursache, sondern kann aus der Gewalterfahrung resultieren. Das heißt Frauen reagieren, wenn sie sowas hinter sich haben, zusätzlich mit dem Bauch, mit den inneren Organen.

Sexueller Mißbrauch ist seit Jahren ein heiß debattiertes Thema. Wie ist zu erklären, daß GynäkologInnen sich erst jetzt verstärkt damit auseinandersetzen?

Ich glaube, für uns alle – und nicht nur für die betroffenen Frauen – gilt, daß es ganz lange Zeit ein Tabu gegeben hat, das im letzten Jahrzehnt endlich gefallen ist. Jetzt können alle beginnen, darüber offener zu reden und auf die Suche zu gehen. Und diese Suche ist natürlich langwierig, denn es gibt verhältnismäßig wenig Literatur darüber. Im psychotherapeutischen Bereich inzwischen schon, aber wenig im gynäkologischen Bereich.

Das heißt, man darf sexuelle Gewalt gegen Kinder auf keinen Fall für ein neues Phänomen halten?

Das ist ein uraltes Phänomen. Das kann man schon in der Bibel nachlesen. Man vermutet ja, daß die Geschichte von Lots Töchtern die Beschönigung einer Inzest-Szene ist. Wir wissen, daß eine Tocher von König David von ihrem Bruder vergwaltigt wurde. Ein Fürst der Medici hatte ein offizielles Verhältnis mit einer seiner Töchter. Virginia Wolf kommt aus einer Inzestfamilie. Es gibt überall Spuren von solchen Vorgängen, aber wir können erst jetzt darüber sprechen.

Haben eigentlich auch andere Ärztegruppen Nachholbedarf?

Ich denke, alle. Denn wir reagieren ja auf seelische Erschütterungen insgesamt von Kopf bis Fuß. Ob wir uns jetzt den Kopf zerbrechen und Kopfschmerzen haben, oder wegen der ewig kalten Füße zum Arzt gehen – alle unsere Organe und Glieder können über seelische Belastungen etwas aussagen.

Was muß für Patientinnen, für betroffene Frauen, in der ärztlichen Versorgung besser werden?

Ich glaube ganz wesentlich ist eine innere Bereitschaft zuzuhören, und nicht in Form von rein medizinisch-technischer Behandlung das Thema abzuwürgen. Dieser große erste Schritt wird inzwischen vielfach gemacht. Es fehlt noch das Know-How und der Austausch, den wir mit unserer Seminarreihe bezwecken.

Was muß sich gesundheitspolitisch ändern?

Es dürfen nicht vorrangig medizinisch-technische Behandlungen abgerechnet werden. Der Bereitschaft von ÄrztInnen , auf die Seele ihrer KlientInnen einzugehen, muß auch Rechnung getragen werden.

Hat Bremen eine Vorreiterrolle bei der Debatte um dieses Thema?

Es gab bisher eine Abendveranstaltung vom Gynäkologinnenstammtisch. Ich erlebe, daß hier in Bremen besonders interessierte Frauen und Männer sitzen.

Fragen: Eva Rhode