Füttern bis zum Abwinken

Immer mehr Kinder sind mangelernährt. Pausenschmaus an Schulen und Müsli-Erlasse sollen helfen  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Der Tisch für die kleinen Geburtstagsgäste ist reich gedeckt. Jedes Kind bekommt einen Big Mäc, dazu eine Portion Pommes frites und einen großen Becher Cola. Zum Nachtisch gibt es zuckersüße Apfeltaschen. Das Festmahl ist so gut wie vitaminfrei, dafür hat es insgesamt 1.259 Kalorien. „Lecker“, seufzt ein achtjähriges Mädchen und wischt sich Vanillesoße vom Kinn. „Das könnte ich jeden Tag essen!“

Wenn das Mädchen ein paar Jahre älter ist und mehr Taschengeld bekommt, wird sie das vielleicht auch tun. Nach einer Untersuchung der Universität Bielefeld essen 45 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und sechzehn Jahren täglich Süßigkeiten, 43 Prozent trinken gezuckerte Limonaden, 7 Prozent stopfen sich jeden Tag mit Fast food voll. Aber auch die jüngeren Kinder, deren Ernährung fast ausschließlich durch die Familie bestimmt wird, essen zuviel fette und zuckrige Kost und zuwenig gesunde Lebensmittel. In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, sind immer mehr Kinder mangelernährt.

Das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung hat festgestellt, daß Schulkinder heute wesentlich weniger Milch trinken als vor zwanzig Jahren. Ihre Kalziumzufuhr liegt um bis zu 25 Prozent unter den Richtwerten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).

Außerdem essen Kinder zuwenig ballaststoffreiche Grundnahrungsmittel wie Gemüse, Obst und Vollkornbrot, sie trinken nur halb soviel wie von der DGE empfohlen. Und dann auch noch das Falsche: Wasser und Tee sind unbeliebt, die Kids schlabbern lieber gesüßte Limonaden und Säfte. Im Durchschnitt trinken sie fünfmal soviel gezuckerte Getränke wie die Kinder der siebziger Jahre.

In ihrem Buch „Postmoderne Ernährung“ zitiert Annelies Furtmayr-Schuh das Essenstagebuch einer Neunjährigen: zum Frühstück Nutellabrot, zum Mittagessen Milchreis mit Schokoladestreuseln, zum Abendbrot eine Wurstsemmel. Solche Eßgewohnheiten werden sich in späteren Jahren rächen: Für Karies und Fettsucht ist falsche Ernährung die Hauptursache, für Herz- und Kreislauferkrankungen und Osteoporose ist sie mitverantwortlich. Etwa 83,5 Milliarden Mark pro Jahr kostet die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten allein in den alten Bundesländern.

Dabei ist gesundes Essen das Lieblingsthema vieler Zeitschriften und Fernsehsendungen. Unzählige Broschüren und Ratgeberbücher predigen Vollkornbrot und Rohkost. Nur ist kein Ratgeber so geschickt und einfallsreich gemacht, daß er mit der Werbung für die Erzeugnisse der Lebensmittelindustrie konkurrieren könnte, die Nuß-Nougat-Cremes und überzuckerte Fruchtjoghurts als kindgerechte Ernährung anpreist und ständig neue Produkte auf den Markt bringt. Frisches Gemüse aber ist kein Markenprodukt. „Gesunde Lebensmittel werden nicht intensiv beworben“, sagt Professor Volker Pudel, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.

Wer der Reklame widersteht, hat es trotzdem nicht leicht, das Wissen über gesunde Kost in die Praxis umzusetzen. Eingeprägte Eßgewohnheiten sind mächtiger als alle Theorie. „Schon nach dem 10. Lebensjahr ist es sehr schwer, das Ernährungsverhalten zu ändern“, erklärt Pudel. Kinder sind zwar flexibler als Erwachsene, doch ist die Entwicklung ihres Geschmackssinns von den Eltern abhängig: „Ob Krabbencocktail oder Insektencocktail – Kinder mögen das Essen, das sie oft bekommen. Vorlieben und Abneigungen entstehen im Elternhaus.“

Da aber die meisten Deutschen für Gemüse immer noch wenig übrig haben und lieber Bratwurst und Schweinebraten mampfen, findet auch ihr Nachwuchs ungesundes Essen besonders lecker. Pizza, Currywurst und Pommes frites essen Kindergartenkinder am liebsten, stellte sich in einer ernährungswissenschaftlichen Studie der Technischen Universität München heraus.

Gemüsebeilagen mochten nur wenige der befragten Kinder. Gerade diese Kinder kamen aus sozial bessergestellten Familien, während ihre Kameraden aus Arbeiterhaushalten Pommes frites und andere stärkehaltige Beilagen bevorzugten. Der Grund dafür ist wahrscheinlich, daß Arbeiterkinder häufiger solche „Sättigungsbeilagen“ zu essen bekommen. Sie machen schnell satt und sind billig.

Je schlechter die soziale Stellung einer Familie ist, desto schlechter ist die Qualität ihrer Ernährung, fand der Bielefelder Sozialwissenschaftler Andreas Klocke heraus. „Sehr wahrscheinlich wird oft zuerst am Essen gespart, weil sich das nach außen nicht so zeigt, der Nachbar das nicht sieht“, meint Klocke.

Das Problem hat sich in den letzten Jahren verschärft, weil gerade kinderreiche Familien und Alleinerziehende besonders rasch in die Armut abrutschen können. Die Zahl der deutschen Kinder und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, wird zur Zeit auf 1,5 bis 2 Millionen geschätzt. „Vor diesem Hintergrund“, sagt Andreas Klocke, „wäre die Einführung einer Schulspeisung wohl das beste.“

„Gemeinsam schmausen in den Pausen“ – unter diesem Motto verspeisen Lehrer und Schüler an niedersächsischen Grundschulen seit zwölf Jahren gemeinsam ein zweites Frühstück. Kurz vor der großen Pause breiten die Schüler kleine Sets als Unterlage für die Pausenbrote aus, die Schule liefert Vollmilch dazu. „Alles wird hübsch arrangiert, das ist ein richtiges kleines Ritual. Es entwickelt sich Eßkultur“, sagt Horst Roselieb vom niedersächsischen Kultusministerium.

Das Gemeinschaftserlebnis beim Essen ist etwas, das vielen Kindern heute fehlt. Besonders Alleinerziehende und Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, können den Sprößlingen beim besten Willen kein gemütliches Frühstück bieten. Oft fällt auch das gemeinsame Mittagessen aus. Doch je seltener ein Kind die Tischgemeinschaft erlebt, desto öfter stillt es den Hunger mit schnellem Junk food. „Viele Schüler müssen allein aufstehen, kommen ohne Frühstück in die Schule und sind dann natürlich gereizt und unkonzentriert“, sagt Dorothea Mandera, Lehrerin an der Fichtelgebirge-Grundschule in Berlin-Kreuzberg. „Einige meiner Kollegen nehmen grundsätzlich ein paar Stullen in die Schule mit, weil die Kinder frühmorgens betteln: Hast du nicht was zu essen?“

In den vergangenen Jahren haben Frau Mandera und andere engagierte Lehrer an einer Reihe von Berliner Grundschulen den gemeinsamen Pausenschmaus eingeführt. „Die Kinder genießen das gemeinsame Essen und lernen dabei auch viel über richtige Ernährung“, erzählt die Lehrerin. „Dann zeigen sie ihr Pausenbrot her: Guck mal, ich hab' heute ein besonders gesundes!“ An Projekttagen kaufen die Schüler zusammen ein, kochen Gemüsesuppe und schnippeln Obstsalat.

Das Sortiment der Schulkioske wird in sechs Bundesländern durch sogenannte „Müsli-Erlasse“ geregelt: Schokoriegel und Zuckerplörren sind verpönt, statt dessen gibt es Milch und Vollkornbrötchen zu kaufen. Allzuweit dürfe man die Reglementierungen aber nicht treiben, warnt Volker Pudel von der DGE: „Daß die meisten Kinder gesundes Essen nicht so gern mögen, kann auch daran liegen, daß die Eltern im Marketing nicht so gut sind. Mit Verboten und Verknappung werden manche Sachen erst attraktiv gemacht.“

Um den Kids die Gier nach Pizza oder Gummibärchen auszutreiben, bevor ihr Geschmack fest geprägt ist, empfiehlt Pudel ein altbewährtes Mittel: Füttern bis zum Abwinken. „Wenn Kinder sich überfressen, erwacht eine Geschmacksaversion.“ Für die achtjährigen Partygäste im Fast-food- Restaurant ist es also noch nicht zu spät: Sie brauchen einfach nur eine strenge Diät aus Big Mäcs, Pommes und Cola.