Über den Gurken schweben

Ernte im Oderbruch: Polnische LandarbeiterInnen liegen zwölf Stunden täglich im „Gurkenflieger“. Billige Arbeitskraft stoppt Mechanisierung  ■ Von Hannes Koch

Der Landarbeiter massiert seine Brust, dann fährt er mit seiner Hand über den Bauch. Schmerzerfüllt verzieht er das Gesicht. Schließlich knetet er noch die Fußgelenke, eins nach dem anderen. Auch die werden bei der Gurkenernte in Mitleidenschaft gezogen. Denn die Gurke pflückt man im Liegen. In Bauchlage verbringen die LandarbeiterInnen zwölf, manchmal dreizehn Stunden, wenn an heißen Augusttagen das krumme Gemüse auf den staubigen Feldern des Oderbruchs nur so sprießt. Zwar dienen den PflückerInnen Matratzen als Unterlage. Doch an den langen Tagen der Schufterei wird selbst das weichste Polster zur Folterbank.

Nicht nur bei der brandenburgischen Agargenossenschaft 80 Kilometer östlich von Berlin ist die Gurkenernte auf einem rudimentären Stadium der Mechanisierung stehengeblieben. In anderen Bundesländern sieht es nicht anders aus: Auch in Bayern und dem Rheinland spielt Handarbeit noch immer die entscheidende Rolle. Die größte technische Errungenschaft sind Traktoren, die zu beiden Seiten mit einer Art Flugzeug- Tragfläche versehen wurden. Im Fachjargon heißen die Maschinen deshalb „Gurkenflieger“.

Auf jeder der acht Meter langen Tragflächen liegen Seite an Seite zehn ErntehelferInnen. Mit Kopf, Schultern und Armen hängen sie über einem breitem Spalt und blicken zu Boden. Unter ihnen zieht unablässig der grüne Dschungel der Gurkenstauden hindurch. „Es dauert nicht lange, und der Nacken beginnt zu schmerzen“, sagt eine Arbeiterin.

Der Gurkenflieger ist eine langsame Maschine. Pro Minute schafft er gerade einmal anderthalb Meter. Über dem Abgrund schwebend, schieben die ErntehelferInnen die großen Blätter zur Seite und fischen in dem Schlangengeäst nach den Früchten mit dem leicht stacheligen Pelz. Ein Fließband vor den Köpfen der PflückerInnen befördert die Gurken schließlich zum Anhänger.

Strenge Selektion herrscht bei der Ernte. Denn die ideale Einlegegurke, die in die Gläser und Dosen der Konservenfabriken paßt, mißt sieben bis zehn Zentimeter. Die kleineren Gurken dürfen noch ein paar Tage weiterwachsen, bevor sie in die Lebensmittelfabriken unter anderem des Spreewaldes geliefert werden. Die typische Spreewaldgurke kann nämlich auch aus dem Oderbruch stammen, denn nicht die Herkunft, sondern das Rezept der Einlegetunke macht das Gemüse zum Spreewälder Produkt. Um jederzeit die Normgröße liefern zu können, werden die 40 Hektar Gurkenäcker der Agrargenossenschaft alle drei bis vier Tage geerntet. In der Saison von Juli bis September fahren die Flieger bis zu 20 Mal über die Felder.

Die PflückerInnen kommen ausschließlich aus Polen. „Ich habe meinen gesamten Jahresurlaub genommen und noch ein paar unbezahlte Wochen dazu“, sagt Mirek, der im polnischen Grenzland unweit der Oder 25 Mark täglich als Elektriker verdient. Im Gurkenland bekommt er für einen „guten Tag“ 50 bis 60 Mark Arbeitslohn ausgezahlt. Dabei werden die ErntearbeiterInnen nicht nach Arbeitszeit, sondern „nach Leistung“ entlohnt, wie die deutsche Ernteleiterin erklärt. Abends zeigt die Waage den Ertrag des Tages: Ein Kilo Gurken der richtigen Größe bringt den Beschäftigten etwa 20 Pfennige. „Deutsche kriegen wir kaum für diese Arbeit“, meint die Leiterin. Obwohl Arbeitslose mit den maximal zu erzielenden 1.200 Mark brutto monatlich „ja auch etwas anfangen könnten“. Vor jeder Ernte schaltet die Genossenschaft Zeitungsanzeigen, um Saisonkräfte aus Brandenburg anzuwerben. Wer kommt, ist nach Angaben der Leiterin „schnell wieder weg“. „Die Deutschen halten die Saison nicht durch.“

Die Versuche, die Handarbeit bei der Gurkenernte durch Maschinen überflüssig machen, seien zu Beginn der 90er Jahre weitgehend eingestellt worden, erklärt Heinz-Joachim Wiebe, Professor für Gemüsebau der Universität Hannover. Denn durch den Zusammenbruch der realsozialistischen Länder „gab es plötzlich wieder billige Arbeitskräfte“, so Wiebe. Die Nutzung der menschlichen Arbeitskraft aus der ärmeren Peripherie der Industriestaaten sei für die Landwirtschaft billiger als die Investition in die Entwicklung von Erntemaschinen.

Dieser Prozeß lasse sich auch in Frankreich und den USA beobachten. In der kalifornischen Gurkenernte habe man den Begriff der „Mechanisierung“ inzwischen in „Mexikanisierung“ umgedeutet, erklärt der Gemüseprofessor. Zudem waren die früheren Versuche zur Industrialisierung der Ernte nicht glücklich verlaufen. Auch die brandenburgische LPG hatte Vollerntemaschinen eingesetzt. Denen gelang es aber nicht, die Blätter und Ranken der empfindlichen Gurkenpflanze vorsichtig genug anzuheben und die Früchte darunter abzupflücken. Statt dessen zerfledderte der Kahlschlagautomat die Pflanzen derart, daß sie hinterher zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Im Vergleich zur Ernte per Hand war der Ertrag deprimierend.

Als sich das Ende des langen Arbeitstages auf dem Gurkenacker nähert, hat der Gurkenflieger einen anderen Trupp PflückerInnen fast eingeholt. Die arbeiten noch nach althergebrachter Methode: Sie sitzen, hocken, stehen im benachbarten Feld, sammeln das Gemüse in Eimern und tragen diese zum Lkw. Diese alte Methode wird mittlerweile nur noch in Notfällen eingesetzt. Der Ertrag fällt geringer aus, weil die PflückerInnen nicht wenige Pflanzen zertreten. Und die ErntearbeiterInnen hassen das Fußpflücken. „Im Liegen ist es nicht so anstrengend. Ich würde lieber fliegen“, sagt einer der Arbeiter.