Tote Habe

Lebenszeugnisse vom Altwarenhändler  ■ Von Gabriele Goettle

Was bleibt übrig von einem kleinbürgerlichen Menschenleben? Im Falle von Frau Elsbeth Schmidt ein Schuhkarton mit wertlosen Papieren und Fotografien im Trödelangebot eines Altwarenhändlers. Dieser Schuhkarton gibt die kürzeste Antwort auf die Daseinsfrage; so lakonisch wie niederschmetternd.

Hebt man den Deckel, entsteht ein erstaunliches Guckloch in die Vergangenheit, in die Ewigkeit dessen, was gerade erst Gestern war. Und was auf den ersten Blick nur Unterlagen von Frau Schmidt zu sein scheinen, wird bei näherem Hinsehen zu Dokumenten kollektiver Geschichtserfahrung.

„Kunzendorf am Groß Hau,

den 8. 1. 1945

Liebe Familie Schmidt!

Besten Dank für die Neujahrswünsche, die ich für Euch Alle herzlich erwidere. Ich freue mich, daß Ihr noch wohlauf seid. Offen gestanden, ich hatte nicht geglaubt, daß man in Berlin-W heute noch vollzählig am Leben sein kann. Ihr werdet aber wohl allerhand erlebt haben und hoffe ich deshalb, auf einen gelegentlichen Bericht über Eure Erlebnisse.

Hier in Merzdorf herrscht tiefer Frieden. Wir haben noch kein feindliches Flugzeug gesehen und keinen Alarm gehabt. Die Verpflegung ist wohl knapp, aber Not kennen wir auch noch nicht. Meine Fuchszucht gilt als wehrwirtschaftlich wichtiger Betrieb und hatte ich deshalb hier auf fast 200 Füchse erweitert. Erst jetzt habe ich stark verkleinert, da ich seit Oktober kein Benzin mehr bekomme und mein Auto stilliegt.

Meine Familie ist auf 4 Ableger angewachsen, die blühend gedeihen und höchstens Spielzeugmangel, sonst aber keine Not kennen.

Freund, nun erwarte ich auch mal nähere Auskünfte von Euch

Mit herzlichen Grüßen!

Euer Paul“

Ein nicht unterzeichneter Briefdurchschlag vom 8. 2. 1944 an den:

Oberwachtmeister G. P a s c h k e

z. Zt. Res. Lazarett Bad Kösen – U. – Saal.

„Sehr geehrter Herr Paschke!

Infolge vorübergehender Abwesenheit konnte mir meine Ehefrau Ihr am 23. 1. eingegangenes Schreiben vom 15. 1. erst am 28. 1. zur Kenntnisnahme und Beantwortung übergeben; ausserdem hatten wir inzwischen, wie Ihnen bekannt sein dürfte, einen erheblich starken Feindangriff, der auch unser Haus stark beschädigte und mir in beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit als politischer Leiter bis in die tiefen Nachtstunden Arbeit verschaffte, sodass ich erst heute dazu komme, zu Ihrem Schreiben Stellung zu nehmen.

Zunächst muss ich Ihnen meine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie sich mit der Logik und Lebenserfahrung des selbständigen Kaufmannes und Frontsoldaten – dem bekannt sein müsste, was man davon zu halten hat – so intensiv mit Gerede von Frauen beschäftigen und andererseits diesen gegenüber einen Ton anschlagen, der das Mass des Zulässigen bei weitem überschreitet, selbst wenn Ihr persönliches Interesse aber auch gewürdigt wird, dass Sie ja gerade die ,Form‘ für nicht richtig halten, die man dann aber insbesondere wahrt.

Abgesehen aber davon ist nun Ihr Schreiben auch in sachlicher Beziehung von verschiedenen Irrtümern getragen, die ich nach meinen eingehend getroffenen Feststellungen richtig stelle.

Bezüglich der Lebensmittelkarten für Ihre Ehefrau – fernerhin kurz LK bezeichnet – bestanden schon seit langem Schwierigkeiten bei der Zuteilung derselben durch die NSV bzw. Kartenstelle, die aber immer wieder durch die persönliche Verwendung meiner Ehefrau als Blockhelferin im Interesse Ihrer Ehefrau überwunden wurden.

Bei der fraglichen Ausgabe derselben sind diese durch Herrn Franke übernommen worden, woraus zu schließen ist, dass Ihrerseits dazu Berechtigung ausgesprochen war und Ihre Ehefrau sich demzufolge direkt an Familie Franke hätte wenden müssen, wie voraufgehend auch bereits erfolgt.

Als Ihre Frau Schwägerin die LK dennoch bei meiner Mutter – also nicht bei meiner abwesenden Ehefrau, die erst späterhin dazu kam – abrief, befanden sich dieselben also bereits mehrere Tage im Besitz der Familie Franke. Die Quittungsliste war zu diesem Zeitpunkte bereits wieder beim Zellenwalter, sodass meine Mutter nicht feststellen konnte, ob Karten mitgekommen waren und wer diese für Ihre Ehefrau in Empfang genommen hat, da meine Mutter von der vorausgegangenen Übergabe derselben an Franke's keine Kenntnis besass.

Sie lassen also auch völlig unberücksichtigt, wodurch sich allein schon ein ganz anderes Bild ergibt, dass Ihre Frau Schwägerin erst viele Tage nach Eingang der Lebensmittelkarten und deren Abrechnung beim Zellenwalter hier vorsprach!

Indem ich Sie mit mir in völliger Übereinstimmung darüber hoffe, dass einer 76 Jahre alten Frau, meiner Mutter, die die LK betreffenden Auskünfte erteilte, nicht mehr ein für alle Einzelheiten ausgezeichnetes Gedächtnis zuzubilligen ist, erhellt der vorbemerkte Sachverhalt, dass Ihre Ausdrücke „Ungezogenheit“ und „gemeine Schikane“ völlig abwegig sind und von einem „Vorenthalten“ überhaupt nicht gesprochen werden darf, sodass ich erwarte, dass Sie sich dieserhalb nach meinen aufklärenden Angaben entschuldigen werden, womit die Angelegenheit ohne Eingehen auf Ihre weiteren beleidigenden Äusserungen meinerseits als erledigt betrachtet wird. Sie werden dabei zweifelsohne berücksichtigen, dass es sich bei der Art der Tätigkeit meiner Ehefrau als Blockhelfer – neben ihrem Berufe – um eine ehrenamtliche handelt, die sie zu der von Ihnen so betonten „ordnungsgemäßen“ Ablieferung nur verpflichtet, sofern dafür die auch mit der Abrechnung der LK zusammenhängenden Voraussetzungen gegeben sind, die nun aber bei ab- und nicht rechtzeitig anwesenden Mietern stets von diesen und nicht vom Blockhelfer abhängen!

Da Sie in diesem Zusammenhang von Wünschen des Führers sprechen – den Sie besser aus solchen Bagatellen heraus gelassen hätten – gestattete ich mir, da ich diesen als Aktivist von 1928/29 genauestens kenne, Sie davon zu unterrichten, dass der Führer die ehrenamtlichen Helfer der NSV nicht als Boten oder, wie der Volksmund sagt, ,Treppenterrier‘ betrachtet wissen will!

Sollten sie indessen nicht für erforderlich halten, sich zu entschuldigen, so werde ich Ihren weiteren Veranlassungen mit grösster Ruhe entgegensehen und zwecks Vermeidung gleichmöglicher Vorkommnisse dafür Sorge tragen, dass meine Ehefrau die weitere Betreuung der Ihrigen ablehnt, sodass die LK direkt beim Zellenwalter, der NSV oder Kartenstelle abzurufen sind, sofern nicht eine Ummeldung an den derzeitigen Aufenthaltsort Ihrer Ehefrau vorgezogen wird, was nur zum Vorteil eines schnelleren und zielsicheren Erhaltes der LK wäre.

Überdies bringe ich Ihnen zur Kenntnis, dass bei der letzten Ausgabe zur 59. ZP. wiederum keine LK für Ihre Ehefrau dabei waren und zwar, wie ich durch den Zellenwalter hörte, auf Veranlassung der Kartenstelle, die aber inzwischen Ihre Ehefrau bei der NSV erhalten hat.

Allein schon aus der Tatsache, dass Ihre Frau Schwägerin in Ihrer Wohnungsangelegenheit keine Verbindlichkeit besitzt, die, wie Sie sehr richtig schreiben, allein Ihnen zusteht, konnte Ihrerseits das seitens meiner Ehefrau bei Ihrem Hinzukommen angeschnittene Thema im Sinne meiner einleitend bemerkten Ansicht betrachtet werden! – Auch in sachlicher Hinsicht befinden Sie sich – soweit dieser Fragenkomplex nicht die durchaus berechtigte Orientierung des Blockhelfers der NSV übersteigt – insofern im Irrtum, weil dieser sich pflichtgemäss über die An- und Abwesenheit der Mitmieter genauestens unterrichten muss, da diese Unterlagen die Grundlage für die Ausgabe der LK darstellen.

Wenn darüber hinaus überhaupt Fragen seitens meiner Ehefrau auftauchten, so sind diese gerade aus dem Ihrerseits für sich so in Anspruch genommenen und auf uns sehr zutreffenden ,nicht leichten Los der Daheimgebliebenen‘ entstanden, nur mit dem Unterschied, dass das Augenmerk auf den totalgeschädigten Mitmieter Herrn Holz gerichtet war. Derselbe ist, wie Sie wissen, Luftschutzwart unseres Hauses, dessen Mieter in ihrer Gesamtheit an seiner Wiederanwesenheit im Hause stark interessiert sind, aus welchem Grunde in diesem naturgemäss ganz allgemein auch über Ihre leerstehende Wohnung gesprochen und meine Ehefrau als Blockhelfer immer wieder darauf hingewiesen wird, die Frage Ihrer Wohnung in Verbindung mit den LK zu klären, also nicht zu lösen, wie Sie unterstellen.

Im Hinblick auf diese Tatsachen dürften Sie Ihre Redewendungen von ,Zersetzung der Heimatfront‘ seitens meiner Ehefrau als völlig unangebracht und ungehörig ansehen. Wenigstens muß ich Ihnen als Parteigenosse, der in seinem Haushalte bereits für eine dem gesunden Volksempfinden Rechnung tragende Einstellung sorgte, als die meisten Deutschen noch nicht einmal wußten, was Nationalsozialismus ist, eine derartige Unterstellung untersagen!

Indem ich hoffe, Sie mit meinen Ausführungen genügend aufgeklärt zu haben, wird Ihre Vollmachtsanzeige für Frau Wolff erst dann für mich akut, wenn im Besitz der Ihnen nahegelegten Rückrufung Ihrer Ausdrücke bin, die ich im Interesse der weiteren LK-Zuteilung alsbald erwarte.

Heil H i t l e r !“

Möglicherweise war der Ehemann von Frau Schmidt Blockwart

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und Absender dieses Briefes. Eine 76 Jahre alte Mutter jedenfalls lebte mit ihnen in der Burgunderstraße 2 in Wilmersdorf, das geht aus einer Beisetzungsbescheinigung des Friedhofs Wilmersdorf vom März 1948 hervor. Angeheftet daran findet sich eine Traueranzeige zum Tode des Vaters von Herrn Schmidt aus dem Jahre 1931 und die Trauungsurkunde des Elternpaares, ausgestellt vom Königlichen Standesamt Berlin Moabit am 18. November 1900.

Frau Elsbeth zog, laut polizeilichem Anmeldeformular, nach einem längeren Aufenthalt in Sofia/ Bulgarien im Januar 1923 in die Burgunderstraße, c/o Schmidt – sie trug noch ihren Mädchennamen Heinze. Einige Zeit später hat sie den Sohn des Hauses geehelicht und einen Sohn geboren, der auf den Namen Dietrich getauft wurde. Wahrscheinlich stammt der Schuhkarton aus seinem Nachlaß.

Ein ganzes Büschel von vergilbten Papieren betrifft die Vorfahren von Elsbeth Schmidt, väterlicherseits und mütterlicherseits, bis zurück ins Jahr 1790. Es sind amtlich beglaubigte Abschriften aus Kirchenbüchern und Gemeinderegistern, „ausgestellt zum Zwecke arischen Nachweises“. Zwar waren die Müller, Schneidermeister, Kahnbauergesellen und unbescholtenen Gattinnen allesamt „arisch“, dennoch fiel ein Schatten behördlichen Mißtrauens auf Frau Elsbeth. Mit einem vierseitigen amtlichen Formblatt und dem Briefkopf vom „Wohlfahrts- und Jugendamt der Reichshauptstadt Berlin“, wird an das „Reichssippenamt Berlin, Schiffbauerdamm 26“ ein Antrag „auf Erteilung eines Abstammungsnachweises“ betreffs Gertrud Adler geb. Heinze gestellt, und zwar auf spezielles Verlangen der „Gestapo in Wittenberg-Lutherstadt, Bachstraße“. Der Antrag wird gestellt, weil „der Erzeuger unbekannt ist“. Mutter der zu diesem Zeitpunkt fast 30jährigen und verheirateten Frau ist laut Formblatt: Elsbeth Heinze, verehelichte Schmidt, wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, Burgunderstraße 2, ev., geb. in Berlin, am 19. 5. 1893“. Vormundschaft und Erziehung des Kindes hatten laut Eintrag ihre Eltern übernommen.

In den fünfziger Jahren ließen sich die Ehegatten Schmidt scheiden – so eine Anmerkung in den Rentenpapieren. Frau Elsbeth und Sohn blieben in der gemeinsamen Wohnung. 1955, im Alter von 62 Jahren, schloß Elsbeth Schmidt eine Lebensversicherung bei der „Vorsorge“ ab. Alle Unterlagen, Einzahlungsquittungen und Klebemarken sind sorgsam in einem Kuvert verwahrt, auf dem in rechtsgeneigter Handschrift steht: „Meine Sterbekasse Sämtliche Unterlagen beisammen“. Ab 1953 oder 1954 bezog sie anscheinend eine kleine Rente und arbeitete nebenbei, wie ein Zeugnis der Firma Edgar Schäfer, Süßwarengroßhandlung, von 1960 zeigt, als Gewerbegehilfin. „Zu ihren Obliegenheiten gehörte der Verkauf von Süßwaren in den EVA-Lichtspielen. Führung und Leistung waren gut.“ Auch ihre darauffolgende Arbeitsstelle lag im Kino. Die „Polygon-Lichtspiel-Betriebe“ kündigten das Arbeitsverhältnis zum 4. 1. 1961: „Wegen Unrentabilität des Süßwarenverkaufsbetriebes in unseren sämtlichen Theatern sehen wir uns leider gezwungen, den Verkauf in der bisherigen Form ab sogleich einzustellen.“ Frau Schmidt, der Süßwarenhandel und die Lichtspielbetriebe erlitten die ersten Auswirkungen des „Kinosterbens“ Anfang der sechziger Jahre durch den Aufschwung des Fernsehens (Pantoffelkino genannt). Frau Schmidt nahm einen Untermieter.

Das Testament von Willi B. – in Schönschrift mit dem Füllhalter feierlich zu Papier gebracht:

„Berlin, den 30. Oktober 1961

Testament

Hiermit wünsche und bestimme ich, daß das in meinem Besitze befindliche Geld und Inventar wie folgt zur Verteilung zu kommen hat:

A Mein in der Bank für Handel und Industrie, Berlin-Friedenau, Rheinstraße 2, investiertes Sparguthaben, Konto Nr. 4/851606 beträgt zur Zeit 2.074,– (zweitausendundvierundsiebzig DM). Nach Rücksprache mit der Bank ist vereinbart worden, daß nach meinem Tode mein Stiefbruder, Herr Fritz K., und meine Schwägerin, Frau Lotte K., wohnhaft Berlin Tempelhof, Wittekindstraße 4, berechtigt sind, mein Sparguthaben von der vorbezeichneten Bank abzuheben. Hierzu wären erforderlich: Vorzeigen meines Sparbuches und meines Totenscheines.

B Ferner besitze ich ein Postsparbuch Nr. 41.799.438. Die hierauf eingetragene Sparsumme beträgt z. Zt. 2.898,– (zweitausendachthundertachtundneunzig DM). Die blaue Ausweiskarte zum Postsparbuch befindet sich in meiner Brusttasche. Das Bank- und das Postsparbuch habe ich im Kleiderschrank im ersten linken Fach und zwar: Die Bücher liegen im Zwischenbretterboden, gut versteckt. In diesem Versteck liegen außerdem etwa 1.000,– DM, die ich für meinen Lebensunterhalt, für ärztliche Honorare und Medikamente z. T. verbrauche.

C Die Summe meiner Ersparnisse in Höhe von 4.972,– DM liegt zur Zeit im Bereich des Monats Oktober 1961. Sollte mein Ableben in diesem Herbst oder Winter erfolgen, dann ist das Geld an folgende Personen zu verteilen:

1. Mein Stiefbruder Fritz K. und dessen Ehefrau Lotte = 1.200 DM

2. Meine Verlobte, Frau Hertha D., Berlin W 15, Wielandstr. 26 = 1.200 DM

3. Mein Neffe, Herr Erich B., Berlin Gatow, Gartenstraße 57 = 1.000 DM

4. Mein Neffe, Herr Peter K., Berlin Tempelhof, Mariendorfer Damm = 300 DM

5. Meine Wirtin, Frau Elsbeth S., Berlin Wilmersdorf, Burgunderstraße 2 = 200 DM

6. Frau Ines Z., Berlin Charlottenburg, Leibnitzstraße 42 = 150 DM

7. Frau Martha M., Berlin W 15, Uhlandstraße 175, Gartenh. IV. Et. = 150 DM (Frau M. hatte meine verstorbene Schwester gepflegt)

Nach Abzug von 4.200 DM von der Summe 4.972 DM verbleiben 772 DM. Der Rest dieses Geld ist in Verbindung mit 500 DM Sterbeversicherung zu bringen. Die Berliner Begräbnishilfe, Berlin Charlottenburg, Knesebeckstraße 30, hat, gemäß Vereinbarung, sämtliche Beerdigungsformalitäten zu übernehmen. Nach dem Stande der heutigen Teuerung wird diese Summe für meine Beerdigung nicht ausreichen. Aus diesem Grunde zahlt nicht nur die AEG (meine Pensionsabteilung), sondern auch meine Rentenstelle einen erheblichen Betrag hinzu. Auch für diese Institute wäre die Vorzeigung eines Totenscheins erforderlich. (Die Adressen sind meinem Bruder bekannt).

Die für die AEG, Abt. WE und für die Sterbeversicherung benötigten Ausweispapiere sind im Schreibtisch. Die Abteilung WE (Wohlfahrtseinrichtung) hatte sich bereit erklärt, für die verstorbenen Pensionäre drei Monatszahlungen an die hierfür Bevollmächtigten auszuzahlen. Erforderlich wäre hierfür der Nachweis von Ausgaben, die über der Grenze von 500 DM Sterbegeldversicherung liegen.

D Eigentumssachen Möbel, Bekleidung, Wäsche und Sonstiges:

8. einen 3teiligen Kleider- und Geschirrschrank. Im 1. und 3. Fach befinden sich diverse Anzüge, Mäntel und andere Gegenstände. Im 2. mittleren Fach Geschirr, Besteck und Lebensmittel – darunter eine Heizsonne und ein Bügeleisen

9. eine Bettcouch, komplett mit Betten, Bezügen und Decke

10. zwei Sessel

11. im Eckschrank (Vertiko) liegt meine Wäsche, 3 komplette Bettbezüge, 8 Oberhemden, hiervon z. T. auch schmutzige, zusätzlich diverse Unterwäsche, 4 Nachthemden, Strümpfe und ein weißer Wollpullover. Im unteren Fach die Schuhe extra. Der Schrank gehört meiner Wirtin.

12. Zu meinem Eigentum gehört ferner ein kleiner Rundtisch mit darauf liegender Brokatdecke, außerdem zwei kleine Brokatdecken,

13. sämtliche an der Wand hängenden Bilder (mit Ausnahme eines großen an der Außenwand hängenden Bilds, auf dem Hochwasserüberschwemmung dargestellt wird)

14. ein kleiner an der Wand hängender Gobelin,

15. eine große blaue Porzellanvase mit eingefaßten Bronceverzierungen und eine Messingmetallvase,

16. auf dem Kleiderschrank stehend 5 Metallfiguren und zwar: Pferd, Ziege, Schmied, Handwerker und eine Milchkanne,

17. im Bettcouchkasten liegen noch diverse Sachen, die nirgendwo unterzubringen waren,

18. zwei Bademäntel, ein schwerer und ein leichter,

19. eine braunpolierte Holzsäule,

20. auf dem Schreibtisch und auf dem Eckschrank sind diverse Bücher aufgestellt, die sämtliche mir gehören,

21. in dem mir nicht gehörenden Schreibtisch sind diverse Akten und vieles andere untergebracht (Schuld an der Unordnung in diesen Fächern trägt mein Zustand),

22. in einer roten Schreibmappe liegen meine Originalzeugnisse,

23. in einer Aktenmappe liegen meine Entwürfe,

24. eine Weckeruhr steht auf dem Schreibtisch,

25. im oberen Schreibtischfach liegt ein Kästchen, enthaltend eine Armbanduhr und Trauring, geerbt von meiner verstorbenen Schwester,

26. ein Radioapparat, Gavotte Telefunken,

27. ein Feldstecher im Lederetui liegt im Eckschrank,

28. zwei lederne Aktenmappen

29. drei Koffer,

30. eine Herrenarmbanduhr und ein Trauring

31. ein Barometer und ein Thermometer,

32. ein Regenschirm und drei Spazierstöcke,

33. eine Metallrolle mit Zeichenpapier,

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Fortsetzung

34. zwei Decken, eine Wolldecke und eine ältere Plüschdecke,

35. drei Künstler-Tischdecken,

36. ein Gasrevolver, im Lederetui liegend.

Nach Maßgabe vorstehender Aufstellung weise ich darauf hin, daß von den 8 bis 36 aufgezählten Sachen auch Gegenstände von Wert darunter sind, die von meinen von 1 bis 4 in Abschnitt C bezeichneten Angehörigen ausgewählt und mitgenommen werden können. Alle übrigen, nicht interessant erscheinenden Sachen, bitte ich meiner Wirtin zu übergeben. Ferner wünsche und bestimme ich, daß die im gleichen Abschnitt genannten Personen und zwar:

1. meine um mich sehr besorgte Verlobte, Hertha D.

2. mein Bruder Fritz K. und

3. meine Schwägerin Lotte K.

die mir sehr viel Liebe entgegen gebracht haben, alle für sie vorbezeichneten Gelder (nach mühsamer Abholung) ohne Bedenken entgegen nehmen.

Vorbezeichnete Testamentserklärung nach bestem Wissen und Gewissen abgefaßt zu haben, bescheinige ich durch meine Unterschrift.“

Die schwungvolle Unterschrift von Willi B. besiegelt seinen letzten Willen. Vollstreckt wurde er, wie dem Anhang vom Amtsgericht Charlottenburg zu entnehmen ist, am 3. Januar 1963 als „Nachlaßsache Willi Böhnke“. Ob und was Frau Schmidt geerbt hat, geht aus den Papieren nicht hervor. Laut Quittung ließ sie Ende Januar 1963 in der Schnellreinigung „Fix“ einen Kissenbezug, einen Wandbehang und einen Bademantel reinigen.

Ende der sechziger Jahre scheint Frau Elsbeth Schmidt gesundheitliche Probleme bekommen zu haben. Ein dickes Kuvert mit Arztberichten aus diversen Krankenhäusern zeugt vom damaligen Befinden. Im Januar 1970 wurde sie mit „Verdacht auf einen nervenverdrängenden Tumor im Sacralbereich“ in die Bonhoeffer- Nervenklinik eingewiesen, verließ diese aber mit der Diagnose „Ischialgie“, wurde am Magen operiert und zu einer Kur nach Bad Pyrmont verschickt, dort erhielt sie, laut Bericht, Solebäder und Schonkost – sie nahm, trotz Inappetenz, 1,5 kg zu. 1977 kam sie mit Schmerzen „im Bereich der Brustwirbelsäule“ ins Theodor- Wenzel-Krankenhaus in Wannsee, diagnostiziert wurde eine „hochgradige Osteoporose mit Zusammensinterung einiger Wirbelkörper, Deckplatteneinbrüche“. Mitten zwischen den Krankenpapieren findet sich ein Schreiben vom Bezirksschornsteinfeger Biedermann: „Wie mein Geselle mir versicherte, hatte er, einen Tag vor Ausführung der Kehrarbeiten, einen Benachrichtigungszettel beim Hauswart in den Briefkasten gesteckt, da dieser nicht anwesend war. Somit liegt unsererseits kein Verschulden vor und ich muß Ihre Forderung um Erstattung Ihrer Auslage ablehnen.“ Beigelegt ist eine Quittung über 40 DM, bezahlt von Frau Schmidt, für die Beseitigung von Schornsteinruß. Gleich daneben gibt ein ärztlicher Untersuchungsbericht in brutaler Sachbezogenheit ein detailliertes Bild von Frau Schmidt wieder: „Kleine Statur, dürftiger Allgemeinzustand, schlaffes Gewebe, Tränensäcke. Rumpfbeugen behindert (trägt Stützkorsett). Zwei Querschnittsnarben im Epigastrum. Bauchdecken sehr schlaff, faltig, Leib gebläht, mäßig hart. Keine weiteren Bewegungshinderungen. Hallux valgus und Hammerzehen.“

Im Mai 73 wurde vom Sozialamt Wilmersdorf mitgeteilt, daß nach dem 1. 5. 73 „kein Anspruch mehr auf Hilfe zum Lebensunterhalt besteht und diese mit sofortiger Wirkung eingestellt wird. Gründe: Ab 1. 1. 73 hat sich Ihre Rente nach dem 15. Rentenanpassungsgesetz auf 551,70 DM erhöht. Durch die verspätete Bekanntgabe ist für die Zeit vom 1. 1. 73-30. 4. 73 eine Überzahlung eingetreten = mtl. 21,30 DM x 4 = 85,20 DM“. Zur Rücküberweisung lag eine Zahlkarte bei.

Auf den Mitteilungen „zur Leistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung“ steht in Fettdruck: „Bitte sorgfältig aufbewahren!“ Das hat Elsbeth Schmidt getan, 1976 betrug ihre Rente 842,40 DM. Die Rentenbescheide und all die anderen „wichtigen Unterlagen“ von Sozialamt, Lebensversicherung und Krankenkasse nehmen einen gewaltigen Raum ein im Schuhkarton, so daß sich dazwischen die Spuren des anderswo erfaßten Lebens fast verlieren.

Ein polizeilicher Meldezettel vom 12. April trägt als neue Anschrift von Frau Elsbeth Schmidt die Adresse eines Seniorenheims. Der Tagespflegesatz beträgt 33,60 DM, insgesamt 1.008 DM monatlich, wobei die fehlenden Mittel vom Sozialamt übernommen werden: „Zur Bestreitung Ihrer persönlichen Bedürfnisse wird Ihnen ab 1. 7. 77 ein Taschengeld in Höhe von DM 131,– gewährt“, steht als Zusatz im Kostenübernahmebescheid des Amtes.

Zu gleicher Zeit ging ein amtliches Schreiben der Abt. Sozialwesen an den Sohn von Frau Schmidt zur Überprüfung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse, wg. Unterhaltsleistungen für die Unterbringung seiner Mutter. Herr Schmidt ließ sich monatelang mahnen und teilte dann dem Amt mit, er könne leider zum Unterhalt seiner Mutter nicht beitragen, denn: „Aus der Zeit meiner Selbständigkeit als Großhändler bestehen noch erhebliche Lieferantenschulden, sowie die aus der beiliegenden Copie ersichtlichen Steuerschulden. (...) Mein derzeitiges Netto-Einkommen ist schwankend (Provisionen) und beläuft sich auf ca. 350,– DM monatlich.“

Laut Rechnung von einem Notar hat Frau Elsbeth Schmidt am 25. 5. 1978 ihr Testament verfaßt. Es entstanden Gebühren von 57,24 DM. Eine Rechnung von der Justizkasse des Amtsgerichtes Schöneberg besagt, daß „für die Verwahrung eines Testaments über den Wert von 4.000,– DM“ die Gebühr von 10,– DM erhoben wurde.

Mittels eines maschinengeschriebenen Briefs, auf glattem, weißem Papier, mit eingeprägtem Berliner Bären, gratuliert der Berliner Bezirksbürgermeister 1978 zur Vollendung des 85. Lebensjahres. „Ich wünsche Ihnen für den nächsten Lebensabschnitt eine gute Gesundheit und innere Zufriedenheit, um in der Rückschau auf ein erfülltes Leben Ihren Lebensabend bewußt genießen zu können.“

Die Sammlung der Lohnsteuerkarten endet mit der des Jahres 1980. Ganz unten im Karton liegt ein weiches rosa Löschblatt, auf dem sich längst verschollene Zeilen in seitenverkehrter Spiegelschrift erhalten haben.