"Sie haben uns immer gehaßt"

■ Tschetschenische Rebellen und russische Soldaten patrouillierten am Wochenende gemeinsam in Grosny. Doch die Stadt ist unkontrollierbar. Und Versöhnung fast unmöglich Aus Grosny Klaus-Helge Donath

„Sie haben uns immer gehaßt“

Strahlender Sonnenschein und himmlische Ruhe über Grosny. Aus der Ferne ertönt, langsam anschwellend, Hubschrauberlärm: „Krokodile“ nähern sich in großer Höhe, für Bodenraketen unerreichbar. Sie halten Kurs und schlagen hinter der Stadt einen Bogen. Knapp eine Viertelstunde noch, dann herrscht Gewißheit. Macht Rußland seine Drohung war und schickt Grosny zur Hölle? Das Ultimatum läuft ab.

An einer herrenlosen Tankstelle im Nordwesten der tschetschenischen Hauptstadt wird noch einmal vollgetankt, Eimer am Seil verschwinden in den im Erdreich versenkten Tank. Benzin gibt es heute kostenlos. Alle Männer hier tragen Waffen, in ihren Gesichtern steht weder Spannung noch Angst, die Kampfhubschrauber beachten sie nicht mal. Grosny ist fest in Rebellenhand.

Einer bietet an, den Weg zu einem Unterschlupf der Freischärler zu zeigen. Über zerklüftete Straßen geht die Fahrt in die hügeligen Ausläufer der Stadt, auf grünen Hängen zwischen rostendem Kriegsmetall weiden Hunderte von Kühen. Hals über Kopf sind die Einwohner geflüchtet und ließen ihr Vieh frei, es sollte nicht elendig in den Ställen verbrennen.

Die Wagen fahren den „Ho- Chi-Minh-Pfad“ entlang, einen überwachsenen Feldweg, den die Tschetschenen in letzter Minute als Schlupfloch angelegt haben. Von hier aus schaut man auf das ewige Feuer der Stadt: die seit Wochen qualmenden Reste einer Ölraffinerie. Im einzigen Auto, das entgegenkommt, sitzt ein älterer Mann mit jenem grünen Band um die Stirn, das hier alle tragen, die bereit sind, für Allah zu sterben. Aus der Hemdtasche schauen Holzgriffe hervor: Granaten. Neben und hinter dem Mannn sitzen Jungs mit flaumigen Lippenbärtchen, die Kalaschnikows in den Händen halten.

An einem einstöckigen Gartenhaus zwischen Obstbäumen ist die Fahrt zu Ende. Mißtrauisch werden die Eindringlinge beäugt. Wir warten in einem Hinterzimmer, ohne aus den Augen gelassen zu werden. Rustan heißt der Bewacher, ein 16jähriger Freischärler. Nach einer Stunde taucht der Kommandeur auf. Er nennt sich Rayonchef des Geheimdienstes der Republik Itschkeria, stellt im militärischen Stakkato seine Fragen und sammelt die Papiere ein. „Wird überprüft, bis dahin unter Hausarrest“, ordnet er an.

Jede weitere Frage zwecklos. Die Tür fällt zu, der Schlüssel knarrt. Draußen bleibt es ruhig, nur in der Nähe fallen ab und an Schüsse. Einige hundert Meter weiter sitzen seit über zwei Wochen Russen in der Falle. Von Freischärlern umzingelt, können sie keinen Schritt vor ihre ehemalige „Kommandantur“ setzen. Scharfschützen geben kein Pardon. Zwischen drei- und siebentausend eingeschlossene russische Soldaten sollen es in Grosny insgesamt sein. Wasser- und Lebensmittelvorräte gehen zur Neige. Ein halbes Glas haben sie angeblich noch am Tag pro Mann – gerade genug, um nicht sofort zugrunde zu gehen in der brütenden kaukasischen Hitze. Ihre verzweifelte Lage zwingt die russiche Seite am Ende, Verhandlungen zuzustimmen. Die meisten Militärs würden sie lieber verrecken lassen, als den verhaßten „Schwarzen“ nachzugeben.

Ein halbes Jahr schon wütete der Krieg, als Rustan nach der neunten Klasse die Schule verließ. Er schloß sich sofort den Freischärlern an, zog mit ihnen von Schlachtfeld zu Schlachtfeld. Seine Eltern hat er schon lange nicht mehr gesehen, sie wohnten in einem von Russen kontrollierten Gebiet. Rustan gehorcht dem Kommandeur aufs Wort, läßt nichts durchgehen. Vor Müdigkeit kann er sich kaum noch auf den Beinen halten. Manchmal wirkt er altklug, in einem Jahr ist er wohl um zehn Jahre gealtert. Nur wenn er angestrengt lacht, zeigen sich kindliche Züge.

„Freiheit und Unabhängigkeit.“ Weiß er, wovon er spricht? Aus Abenteuer wurde Beruf. Was wird er nach dem Krieg machen? Noch glaubt Rustan nicht an das Ende, aber: „Wir nehmen dann Moskau, vielleicht auch Berlin“, lacht er und verschlingt einen Snickersriegel. Zwischendurch holt er für alle aus dem Garten Weintrauben, legt sich vor die Tür und schläft.

Freudestrahlend springt ein älterer Kämpfer, mit einer Mundharmonika bewaffnet, ins Zimmer: „Spiel, wenn du Deutscher bist!“ „Schwarzbraun ist die Haselnuß“ und „Schöner Westerwald“ als Auslösesumme? Das Klischee vom deutschen Soldaten aus sowjetischen Kriegsfilmen will bedient werden. Achselzucken, mit herablassender Geste zieht er enttäuscht von dannen. Nicht nur sowjetische Standardstreifen haben sich in den Köpfen eingenistet, vielen Guerilleros erscheint die alte UdSSR auf einmal wie ein ethnischer Garten Eden, in dem jeder nach seiner Fasson glücklich werden konnte.

Unterdessen sitzen etwa 25 Kilometer südlich von Grosny, in Nowi Atagi, die Generäle Lebed und Maschadow am Verhandlungstisch und stampfen einen Waffenstillstand aus dem Boden. Beide dienten in der Roten Armee, offensichtlich sprechen sie noch dieselbe Sprache. Nach 20 Stunden hebt Oberst Reswan die Quarantäne auf, das Radio überträgt. Der Mittdreißiger ist locker, gelassen und gesprächsbereit. 1991 sei er nach Tschetschenien zurückgekehrt. Aufgewachsen ist der Ingenieur in Rußland. „Sie haben uns immer gehaßt, schon in der Schule“, sagt Reswan. „Damals hab ich begriffen, wir ,Schwarzen‘ werden nie gleichberechtigte Söhne Rußlands sein, die Russen legen ihren Rassismus nicht ab.“ Reswan traut dem ausgehandelten Frieden noch nicht. Doch er will sich daran halten, was immer die politische Führung der Republik vereinbart. Die letzten Monate haben das Vertrauen zur eigenen Regierung noch verstärkt. Mittlerweile steht ein ganzes Volk unter Waffen.

Aus Grosny herauszukommen, ohne die verängstigten und daher unberechenbaren russischen Posten zu passieren, erweist sich als problemlos. An der Straßenkreuzung vor der Stadt schneidet ein Feldfriseur einem Unabhängigkeitskämpfer auf offener Straße die Haare. Ein Lastwagen mit Nachschub donnert an ausgedienten Bohrtürmen vorbei in die Hügellandschaft hinein. Weit und breit keine Menschenseele. Die Stadt ist einfach unkontrollierbar.

In den südlichen Bezirken der Republik hat sich die Nachricht vom bevorstehenden Frieden und dem Abzug der Truppen schon herumgesprochen. In Katir-Jurt treffen sich die Männer zum Freitagsgebet vor der Moschee – Friedensfanfaren hat es schon so viele gegeben ... Die Einwohnerzahl des Ortes hat sich in den vergangenen Tagen verdoppelt: Jedes Haus beherbergt Flüchtlinge, in manchen drängeln sich an die fünfzig – die meisten von ihnen Frauen, die sich ihre grausigen Fluchterlebnisse von der Seele reden möchten. Schmuck und Ringe hätten die Soldaten verlangt, die einen Korridor für die Flüchtlinge sichern sollten. Haufenweise Leichen hätten in den Gräben gelegen.

„Hätte ich nicht fünf kleine Kinder, ich wäre zu den Rebellen gegangen“, meint eine Frau Anfang 30 erschöpft. Ihren Mann hat sie schon verloren. Frieden wünschen alle, doch Versöhnung, ob die noch möglich ist? In Pobedinskoe hatte eine Frau mit monotoner Stimme berichtet, wie russische Einheiten die Schule umstellten, einen Zwölfjährigen auf den Schützenwagen zerrten und ihn später herunterwarfen. Die Leiche, der die Augen ausgestochen waren, mußten die Eltern freikaufen.