Kündigung für aufmerksamen Erzieher

Kreuzberger Gemeinde will sich nicht mit der sexuellen Belästigung durch den Sohn eines Kirchenratsmitglieds beschäftigen und kündigt statt dessen fristlos einem engagierten Erzieher einer Kita  ■ Von Barbara Bollwahn

Die evangelische Kirche in Kreuzberg muß sich erneut mit dem Thema sexueller Mißbrauch befassen. Nachdem im Juli ein Erzieher in der Kreuzberger Emmaus-Ölberg-Kirchengemeinde wegen eines solchen Verdachts entlassen wurde, ist vergangene Woche nun einem Erzieher einer Kita der St.-Simeon-Gemeinde fristlos gekündigt worden – diesmal allerdings wegen der couragierten Aufklärung einer sexuellen Belästigung.

Vor einem Dreivierteljahr stellte der Erzieher Andreas Wolf fest, daß sich ein damals dreijähriges Mädchen anders als sonst verhielt: Es war depressiv, apathisch und faßte andere Kinder an die Genitalien. Später vertraute es sich dem Erzieher an und erzählte ihm, daß ein 13jähriger Junge über einen Zeitraum von mehreren Monaten es mehrfach „an der Muschi“ berührt habe. Der 32jährige Wolf informierte daraufhin die beiden Familien sowie die Kirchenleitung. Wenige Tage später standen drei Mitglieder des Gemeindekirchenrates (GKR) vor seiner Wohnung und gaben einen Brief mit der fristlosen Kündigung ab. „Mir wurde vorgeworfen“, so Wolf, „ich hätte Unfrieden gestiftet und die Kinder durch mein Verhalten geschädigt.“ Die Familie des 13jährigen Jungen hatte sich in einem Brief über sein Verhalten beschwert.

Das eigentlich „Pikante“ an der Geschichte: Der 13jährige Junge, der zugibt, das Mädchen an den Genitalien berührt zu haben, ist der Sohn eines Gemeindekirchenratsmitglieds. „Indirekt hat das miteinander zu tun“, ist Wolf überzeugt. Die genannten Gründe für seine Kündigung – er hätte vor der „Opferfamilie“ die Kirchenleitung informieren müssen – sieht nicht nur er als Vorwand.

Wolf und viele Eltern der Kita werfen dem Gemeindekirchenrat vor, sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen zu wollen. „Alle wissen davon, aber keiner will darüber reden“, so Wolf. Gemeindepfarrer Zyris will sich zu der Kündigung nicht äußern. „Mein Mann sagt nix dazu“, ließ er seine Frau am Telefon lediglich mitteilen.

Auch Superintendent Lothar Wittkopf findet die Entlassung falsch: „Mir ist das pädagogisch verantwortungsvolle wachsame Handeln eines Erziehers wichtiger als das formale Einhalten von Umgangsformen im Streitgespräch.“ Wittkopf will sich auf der heutigen Sitzung des GKR, die er einberufen hat, hinter den Erzieher stellen. Dieser habe „in vielerlei Hinsicht vorbildlich“ gehandelt. Doch ob die Kritik des Superintendenten die Kündigung rückgängig machen kann, ist mehr als fraglich. Der Gemeindekirchenrat, in dem Pfarrer Zyris und acht gewählte Mitglieder sitzen, ist in seinen Entscheidungen autonom. „Ich habe nur die Möglichkeit, eine Sitzung anzuberaumen“, beschreibt Wittkopf das Dilemma.

Trotz Mißbilligung der Kündigung, von „sexuellem Mißbrauch“ will der Superintendent nicht sprechen. „Der 13jährige Junge soll sich sexuell unschön in Berührung einem Mädchen gegenüber verhalten haben“, drückt er sich umständlich aus. „Das ist kein Mißbrauchstatbestand.“ Für Erzieher Wolf dagegen heißt Mißbrauch „nicht unbedingt nur Eindringen“. Wittkopf findet es „höchst problematisch“, von „Täter- und Opferfamilie“ zu sprechen. Der Superintendent kündigte für den Herbst Gespräche zum Thema Mißbrauch für interessierte Eltern aller zehn Kitas in Kreuzberg an, die in der Trägerschaft der evangelischen Kirche sind. „Wir müssen klare und offensive Positionen durchhalten“, so Wittkopf.

Eine Mutter, deren Tochter in die Kita in der Wassertorstraße geht, ist über das bigotte Verhalten der Gemeinde höchst enttäuscht: „Die kirchlichen Vertreter verhalten sich wie im Kaninchenzüchterverein. Statt Belange der Kirche zu repräsentieren, sind die Leute nur für sich da. Das ist wie ein Apparat.“ Der Gemeindekirchenrat sei „bekannt für morbides und cholerisches Handeln“. Eine Elternversammlung, die vergangenen Donnerstag auf dem Gelände der Kita stattfinden sollte, wurde ebenso untersagt wie das Verteilen von Informationsblättern. Ob die für gestern nachmittag einberufene außerordentliche Elternversammlung auf dem Gemeindegelände stattfinden konnte, war bis Redaktionsschluß genauso unklar wie die Teilnahme des dazu eingeladenen Gemeindekirchenrates.

Im Falle des fristlos gekündigten Erziehers der Emmaus-Ölberg-Gemeinde ermittelt immer noch die Staatsanwaltschaft. Im Gemeindekindergarten war nach Überzeugung der Polizei ein Mädchen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mißbraucht“ worden. Die Polizei glaubt, der Erzieher verfüge über „Täterwissen“. Der Verdächtige hatte in einem Buch die Lust eines Erziehers an sexuellen Handlungen mit Kindern voyeuristisch beschrieben. In einem Arbeitsgerichtsprozeß hat der gekündigte Erzieher inzwischen eine Abfindung von 30.000 Mark erstritten.