Heisere Stimmen, gerötete Gesichter

Havanna gegen Schalke: Wenn Danny Castro aus Kuba in den Ring tänzelt, steigt der kollektive Adrenalinspiegel in Charly Schultz‘ Boxbude  ■ Von Anja Schermuly

Ein Sommerabend, Herne, Crange. Auf dieser Kirmes ist alles größer: die Karussells, die Schlümpfe, die Cinzano-Flaschen, die halbleer getrunken im Arm gehalten werden, und auch die Boxbude neben der monströsen Achterbahn. Auf der obersten Stufe vor dem Eingang steht Charly Schultz, der schwergewichtige rotblonde Chef der Boxtruppe und wirbt Herausforderer und Zuschauer: „Egal, welche Farbe, Größe, ein jeder Sportler wird hier akzeptiert, meine Damen und Herren. Und wir verteidigen hier 4.000 Mark in bar. 4.000 Mark an den Sportsfreund, der hier nach oben kommt und die gesamte Kampftruppe k.o. schlägt. Aber meine Damen und Herren, das muß natürlich schon eine Ausnahmeerscheinung sein, ein Mann wie Arnold Schwarzenegger, ein Mann wie Henry Maske. Darum haben wir einzelne Prämien ausgesetzt, und die gebe ich jetzt mal bekannt...“

Mit heiserer Stimme und gerötetem Gesicht schreit Charly Schultz ins Mikro, bewegt sich trotz seines Körperumfangs flink wie ein Wiesel auf dem erhöhten Blechsteg hin und her und stellt dem Publikum seine Boxer, seine „Kampftruppe“ vor, die größte von drei in Deutschland existierenden: „Mario Martini, italienischer Meister, Marcel Boulevard aus Luxemburg, Ray Anderson aus New Mexiko, auch die Kampfmaschine genannt, Helmut Baumann, der Juniorenmeister aus Berlin, Jan Lupas aus Holland, Jimmy Morgan aus Colorado.“ Später erläutert Schultz: „Die heißen nicht wirklich so, aber man muß ja mal ein bißchen Action bringen.“ Das hat man sich denken können, denn daß der Catcher der Truppe, ein massiger schwarzer Wonneproppen, Danny Castro aus Kuba sei und auch noch der Sohn vom Máximo lider, wie er behauptet, ist kaum zu glauben.

Das ist zuviel für einen echten Weltmeister

Mittlerweile ist der Weg zur Achterbahn verstopft, die Menschen bleiben stehen und schauen zu, wie die einzelnen Boxer kurz vortreten und teils gelangweilt, teils aggressiv gegen den Punchingball schlagen. Im Publikum zeigen sich Finger, die Herausforderer sind gefunden.

Der schwergewichtige Metzger mit tätowiertem Oberarm, der vorher im Catchen gegen Castro verlor, beschwert sich, daß zwei Runden zu kurz seien. „Aber der Mann ist immer gerettet worden mit der Uhrzeit“, röhrt Castro ins Mikro. „Nein, der Mann sagt, du bist gerettet worden“, heizt Schultz die Stimmung an. Das ist zuviel für einen echten Kubaner: „Ich bin unbesiegbar, ich bin Danny Castro aus Kuba, ich bin Weltmeister von Karibik.“ Und zack, einem imaginären Gegner wird ein Haken verpaßt. „Ja, von Karibik, und der hier ist Weltmeister von Schalke.“ Das Publikum feixt, steigt die Stufen hoch, zahlt und verschwindet im Zelt.

Draußen werden noch einmal Boxer und Herausforderer vorgestellt: „Ich bin sprachlos meine Damen und Herren, ein, zwei, fünf Herausforderer.“ Neben dem Schalker Metzger stehen ein durchtrainierter Kaufmann aus Herne, ein schmieriger, leicht angetrunkener Lkw-Fahrer aus Bottrop, ein amerikanisches blondes Bübchen und ein zarter russischer Lehrer, die allesamt wildentschlossen dreinblicken. Das ändert sich auch nicht, als die Regeln fürs Catchen erklärt werden: „Also, da können Sie alles machen, was Sie wollen. Das heißt: Faustschlag in die volle Gesichtsmaske, Handkantenschlag, der Würgegriff, der Kreuzbrecher, Strangulieren des Halses, die Todeszange.“

Im Zelt heißt es ausharren. Außer einem Boxring und einer Biertheke gibt es nicht viel zu sehen. Warm ist es und muffig. Die Freunde des Herner Kaufmanns lassen es sich nicht nehmen, ihren Kumpel mit Boxhandschuhen in entsprechenden Posen im Ring zu fotografieren. Einige ältere Männer in schwarzen Lederjacken respektive ballonseidenen Trainingsanzügen und ein paar Frauen sind auch da. Die ersten Kämpfe laufen recht zäh: Ausweichen, zarte Schläge, voreinander hertänzeln. Der russische Lehrer in Jeans, T-Shirt und Straßenschuhen springt wie ein Reh durch den Ring und kann sich am Ende nur hinter den für seinen Körperbau gewaltig aussehenden Handschuhen verstecken. Und aus, zwei Runden à 30 Sekunden sind nicht lang.

Dann der Kampf des Abends: Havanna gegen Schalke. Der kollektive Adrenalinspiegel steigt. Zweimal wirft der Metzger den Kubaner auf die Matte. Am Ende hängt er doch im Nelsongriff. Der Kampf wird trotz heftigem Pfeifkonzert wieder für Castro entschieden. Zum zweitenmal ist der Metzger ihm unterlegen.

Seit Maske gibt es Herausforderer genug

„Die Menschen sind immer für die Kleinen, für die Unterlegenen“, sagt Charly Schultz. „In Düsseldorf oder Crange, da hat sich das etwas gewandelt, weil da jedes Jahr ein Zelt steht, da kriegen auch manchmal unsere Kämpfer Applaus.“ Auch am nächsten Tag klingt Charly Schultz' Stimme heiser, als der ehemalige Profi- und Amateurboxer ein Album mit Fotos und Zeitungsartikeln zeigt: Schultz mit K.o.-Sieg, Charly Schultz feiert seinen sechsten K.o.- Sieg. Besonders stolz ist er auf die Bilder, die ihn mit Muhammad Ali zeigen, für den er 1979 in der Deutschlandhalle im Rahmenprogramm geboxt und gewonnen hat. Mehrere Titel hat der gelernte Kürschner errungen: Saarland- Meister, Südwestdeutscher Meister und Luxemburger Meister wurde er. Seit zwölf Jahren hat der Saarländer, der aus einer Schaustellerfamilie kommt, eine eigene Boxbude. Auf Crange hilft er mit seiner Truppe einer Bekannten aus, das ist Ehrensache. „Mit 38 Jahren kämpft man eben nicht mehr selber. Nur wenn extrem schwergewichtige Herausforderer kommen, dann muß ich schon mal selbst antreten.“

Angst vor den unbekannten Herausforderern kennt Charly Schultz nicht: „Ach Gott, im Laufe der Jahre hat man so seine Erfahrungen gemacht. Es kommen manchmal Angetrunkene, aber da sag' ich meinen Leuten: langsam machen, den Mann jetzt nicht zertrümmern, ihn nicht zerschlagen, ihn ein bißchen auf Distanz halten. Wenn er zu verrückt spielt, muß er ein paar auf die Gosch' kriegen, damit er weiß, wo er dran ist. Wir leben ja davon, daß sich die Leute melden. Was nutzt das, wenn der Mann auf'm Boden liegt, und dann meldet sich keiner mehr?“ Früher gab es Zeiten, in denen Herausforderer geradezu gesucht werden mußten, seit Henry Maske ist das anders: „Die Leute sind extrem hungrig auf das Geschäft. Die sehen ja auf jedem Volksfestplatz einen Autoscooter, ein Riesenrad, aber irgendwann ist ja mal der Punkt erreicht, da geht es nicht mehr schneller, dann passieren die Unfälle, und dann kommen sie wieder zu uns. Wir sind ja ein Nostalgiegeschäft. Im Endeffekt hat sich an unserem Metier nicht viel verändert. Und wo gibt es das heute noch, eine Show, die sich die Leute angucken können, ohne zu bezahlen?“ Umsonst ist zumindest Charly Schultz' Programmteil. Abend für Abend läuft er mit dem Mikro in der Hand vor seinen Boxern her, preist ihre Stärke, sucht Herausforderer und lockt Publikum heran. Das Ganze umrahmt von blinkenden Olympiaringen und Konterfeis unbekannter Boxer. Und die Menschen kommen immer wieder, jedes Jahr, fragen nach den alten Kämpfern, nach Gänsemann und Grabowski, und sind verwundert, daß die Zeit so schnell vergeht. „Ja, sach' ich, guter Mann, der ist ja auch mal gestorben, der Gänsemann, der ist ja auch älter geworden in den vierzig Jahren.“ Und den Grabowski, den ehemaligen Ostzonenmeister, kennt Schultz, aber einen 60jährigen kann man nicht mehr in den Ring stellen. Da hat die Nostalgie dann doch ein Ende.

„München, Dachau, Rosenheim, Crange, Straubing, Düsseldorf, das sind halt die Plätze, wo die Leute kommen. Hier in Crange muß man schon etwas seriöser arbeiten, in Düsseldorf kann man mehr Action machen, und in Bayern, da lachen die Leute. Da kann ich 'nen Handstand machen. Aber hier, das sind extreme Menschen, weil sie ärmer sind.“ Für die Zukunft kann sich Charly Schultz, den seine Frau Angelika und seine zwei Kinder immer begleiten („Eine Frau ist die Stütze der Firma“), vorstellen, Wrestling in die Show zu nehmen oder ein beheiztes Zelt im Winter an einem festen Ort...

Und boxende Frauen? Auch die gab es schon bei Charly Schultz, Arabella, die erste boxende Frau auf deutschen Volksfesten. Alles schon dagewesen. Viel Neues ist nicht möglich, aber auch gar nicht nötig, bei einem Geschäft, das den Traum, einmal im Ring zu stehen, wahr macht: „Man kann sich stark fühlen, aber wenn man im Ring steht, alleine mit seinen Handschuhen angezogen, sieht seinen Gegner vor sich, dann ist das schon schwer. Da ist einem schnell die Luft weg, und man hört die Anfeuerungsrufe, man nimmt die 200 Menschen nur mit dem Unterbewußtsein wahr. Ich hab' damals in der Deutschlandhalle nur meinen Vater, meinen Trainer gehört. Das ist schon eine schwere Sache.“ Und das zu glauben fällt nicht schwer, egal, ob dieses Gefühl die plötzliche Einsamkeit inmitten der Menschenmasse oder die Angst des Boxers vorm K.o. ist.