: Der taz-Sommerroman: "Dumm gelaufen" - Teil 39
Glatter öffnete eine Spielzeugkiste und griff nach seinem Gurt mit den Waffen. Sie sahen wie echte Pistolen aus; die Erbsenrevolver seiner Jugend. Er entledigte sich seiner Jacke und legte sich ein Kreuzband an, um das Ziehen zu üben. Glatters einst so schnelle Revolverhand war langsamer als die rechte geworden, und mit der rechten war er nur wenig besser als der Durchschnitt. So langsam Glatter auch geworden war, genau zielte er noch immer, sehr genau sogar. Glatter wurde Cowboy. Im Staate Hamburg. Mitten in St.-Georg-Town. Alles war richtig an ihm, alles! Unter tausend Männern fiel er auf wie ein Löwe unter schmutzigen Dorfkötern. Oh, er war Glatter, der große Glatter, den alle riefen, wenn man sich fürchtete.
Denn Glatter – Glatter fürchtete sich nicht. Unten vor dem Haus klingelte seine Familie Sturm. Glatter sah aus dem Fenster. Es war die Familie, der man ansah, daß sie eine Familie waren. Ja, daß mußte seine Familie sein! „Was wollen Sie, Familie?“ Glatter stellte die Frage mit vollem Hohn. In seinen stahlgrauen Augen funkelte die öde, heiße Prärie. Auf stickigem Sand verwesten Pferdekadaver. Und die Wasserstellen waren alle vergiftet. Die Lange Reihe leerte sich, die Tische des Saloons, die mitten auf dem Bürgersteig standen, wurden verlassen. Eine Pokerrunde brach ihr Spiel ab. Einer der Spieler knurrte böse, er hätte einen Royal Flash gehabt. Es waren Bürger von St.-Georg-Town, Animierdamen, Frachtfahrer, Schürfer, die eigene Claims bearbeiteten oder aus einer Mine kamen – und typische Cowboys. Auch ein berufsmäßiger Spieler war da und zwei oder drei undurchsichtige Einzelgänger, die sich in den Ecken der Straße drückten, wo das Tageslicht besonders schwach für einen Hinterhalt war. Aber das alles war plötzlich unwichtig und vergessen. Denn die Familie war gekommen. Alle Zuschauer waren bereit, in Deckung zu gehen, sich unter die Tische zu ducken. Manche ließen sich zu Boden fallen und krochen aus dem Weg. Es war niemand mehr zwischen Glatter und Familie. Sie sahen sich aus vier Stockwerken Entfernung an. „Öffne die Tür, Vater!“ rief der älteste seiner Söhne scharf. „Komm keinen Schritt näher, Familie!“ Glatter grinste seltsam. Und geheim. Und irre. „Vater, es ist jetzt Zeit – Zeit, dich ins Altersheim zu bringen!“ Sohns Stimme klang trügerisch sanft. Er wurde jetzt gefährlich.
Aber das war Glatter auch! Gefährlich! Gemein! Und ohne Gewissen!
Der Sohn sah in Glatters Augen. Sie waren Fieber. Sie waren Feuer, und Sohn ahnte, daß Vater einer Laune gehorchte und daß die Situation ein besonders übler Scherz war. Es war drei Sekunden später, als Glatter die Familie warnte. „Mindestens einen von euch werde ich mitnehmen!“ So klang der Lockruf des Todes von Glatter. Und alle, die Guten und die Bösen, die Schwachen und die Starken von St.-Georg-Town sammelten sich wieder auf der Lange Reihe, um dem Duell zuzusehen. Familie blickte in die Runde. Sie vermuteten eine Falle. Sie rechneten mit einem Heckenschützen, der von einem Hausdach, aus einem Fenster oder aus einer Gasse schießen würde.
(Fortsetzung folgt)
Copyright Achilla Presse Bremen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen