Per Mausklick zum Hörer

Inforadio, das erste digitale Radio, wird heute ein Jahr alt. Mit kleiner Mannschaft, niedrigen Kosten und abgespeckter Hierarchie zum Erfolgsmodell  ■ Von Tobias Rapp

Der kleine gläserne Inforadio- Pavillon am Theodor-Heuss-Platz wirkt neben dem massigen Haus des Rundfunks wie David neben Goliath. Von hier aus heißt es seit einem Jahr: „Wir machen Nachrichten interessant. Inforadio.“ Die Newswelle ist der erste digitale Sender Deutschlands. „Wir sind ein Schaufenster in die Radiozukunft“, sagt Werner Voigt, stellvertretender Chefredakteur von Inforadio und vom ORB-Sender Fritz herübergewechselt. Dieses Selbstbewußtsein stützt sich vor allem auf die neue Technologie und die damit verbundene andere Organisation der Arbeit.

Die digitale Revolution beginnt im Erdgeschoß des Pavillons. Hier befinden sich die zwei Studios des Senders. Bei Sprecherin Kerstin Tomiak an ihrem digitalen Sendepult sucht man Papier genauso vergeblich wie Tonbänder. Handzeichen werden keine mehr benötigt. Alle Informationen kommen aus dem Rechner. Der Beitrag über die Lage in Tschetschenien kommt per Mausklick von der Festplatte, und auch die Nachricht vom Tod Rio Reisers steht auf keinem Zettel. Per Mausklick öffnet Kerstin Tomiak ein Textfenster und liest ab.

Doch nicht nur der Sendebetrieb aus einem digitalen Studio unterscheidet sich vom analogen wie ein Laptop von einer Schreibmaschine. Auch die Produktion der Beiträge am Schnittcomputer hat nur noch wenig mit der Tonbandfrickelei an riesigen Bandmaschinen zu tun. Die Tonschnipsel liegen auf der Festplatte des Computers und werden nicht mehr mit der Hand zusammengeklebt, sondern per Mausklick verbunden.

Im ersten Stock des Pavillons befindet sich der Redaktionssaal des Senders. Die laute Hektik des Großraumbüros hat nichts mit der konzentrierten Ruhe in den endlosen Gängen des Hauses des Rundfunks gemein. Auf sechs Fernsehern an der Wand laufen verschiedene Nachrichtenkanäle aus aller Welt, an den ungefähr zwanzig Computern sitzen die Mitarbeiter des Senders und produzieren ihre Beiträge.

Jeder Schreibtisch hängt am senderinternen Computernetz. Um gesendet zu werden, muß niemand ins eigentliche Studio gehen. Direkt vom Schreibtisch kann man live ins Studio geschaltet werden.

Ein analoges Tonbandgerät hat Inforadio jedoch noch. Zwischen den Computern wirkt es wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ohne geht es jedoch nicht. Die Bandmaschine dient als Schnittstelle zum analogen Rest der Radiowelt beim SFB und den anderen ARD-Sendern. Deren Beiträge müssen erst digitalisiert und ins Computernetz eingespeist werden, bevor sie sendefähig sind.

„Die digitale Technik gibt eine vollkommen andere Arbeitsweise vor“, erläutert Voigt. „Das öffentlich-rechtliche Hierachie- und Abteilungswesen gibt es bei uns nicht.“ Es gibt keine Nachrichten-, Kultur- oder Sportabteilung, sondern nur eine einzige Redaktion. Die digitale Technik mache die klassischen Hierarchien überflüssig. Mit Basisdemokratie habe das wenig zu tun, sagt Voigt, praktische Erwägungen seien wichtiger. „So funktioniert es halt besser.“

Natürlich seien die MitarbeiterInnen Spezialisten auf bestimmten Gebieten, doch die Arbeit sei nicht ressort-, sondern teamorientiert. JedeR arbeite in mehreren Funktionen, ob der oder die einzelne gerade als ReporterIn unterwegs sei oder als SprecherIn arbeite, hänge vom Dienstplan ab, so Voigt. Auch die Spaltung in inhaltlich Arbeitende und Techniker gebe es bei Inforadio nicht. Die Technik mache es möglich, daß die Beiträge alleine produziert werden können.

Doch nicht alle sind von den neuen Arbeitsbedingungen begeistert. Hanne Daum, Vorsitzende des SFB-Personalrats, hat Einwände gegen die Folgen der Digitalisierung. Der Wegfall der Arbeitsteilung zwischen RedakteurIn, TechnikerIn, SprecherIn und CutterIn werde von keiner entsprechenden Personaldecke aufgefangen.

Bei Inforadio sind dreißig Festangestellte und ungefähr siebzig freie Mitarbeiter beschäftigt. „Wir würden uns wünschen, daß es mehr Festangestellte sind.“ Auch die Bildschirmarbeit sei sehr belastend, heißt es beim Personalrat.

Beim öffentlich-rechtlichen Goliath trifft der gläserne David vom Theodor-Heuss-Platz auf großes Interesse. Beim Start galt das Gemeinschaftsprojekt von SFB und ORB als Modell für einen möglichen Zusammenschluß der Landessender. Davon spricht heute niemand mehr. Interesse besteht vor allem an den gemachten Erfahrungen der Digitalfunker. Delegationen aller ARD-Stationen gäben sich bei Inforadio die Klinke in die Hand, um sich die Technik und ihre Auswirkungen anzuschauen. Werner Voigt wundert das nicht. Die Digitalisierung eröffne neue Tätigkeitsfelder und andere Berufsbilder.

Natürlich habe es Pannen gegeben, gibt Voigt zu: Dazu zählen die falschen Jingles, die falschen Anmoderationen oder einfach zehn Sekunden Stille. Mittlerweile hätten sie die Technik jedoch im Griff. „Wir haben fast alles richtig gemacht“, resümiert Voigt nach einem Jahr on air.

Die inhaltliche Ausrichtung sei bei den Hörern angekommen. Es sei gelungen, mehr als nur ein Zweitprogramm zu werden. „Wir haben im großen Umfang Nachrichten selber geschaffen“, betont Voigt: „Mittlerweile melden sich Leute bei uns, weil sie hier zu Wort kommen möchten.“ Nur mit der Berlin-Brandenburg-Berichterstattung ist er noch nicht zufrieden, da müsse noch mehr geschehen. Eine Folge der öffentlich-rechtlichen lean production freut ihn besonders: „Wir haben das negative Image der ARD unterlaufen, nämlich langsam und teuer zu sein.“