„Besser eine Schläger- als eine Drogenschule“

Beobachtungen an der Poelchau-Gesamtschule in Charlottenburg, die in Verruf geraten ist. Eltern haben entschieden: Dies ist eine Schule für Verlierer. Modernes Management soll „Laisser-faire“ ersetzen und leistungsstarke Schüler anlocken  ■ Von Thomas Loy

Zwischen Ufuk*, dem betont coolen Klassenhelden, und Marina Reich, seiner Englischlehrerin, hat sich eine Form von Haßliebe entwickelt. Um den großgewachsenen türkischen Jungen aus der siebten Jahrgangsstufe zu bändigen, greift Reich schon mal zu einer klassischen Disziplinarmaßnahme: Fünf Minuten vor die Tür. Diesmal hatte er seinen Nachbarn als Mißgeburt betitelt. „Er hat ,Fischkopp‘ zu mir gesagt“, verteidigt sich Ufuk. Aber nicht in vergleichbarer Lautstärke, urteilt Reich und weist ihm die Tür. Das Ritual verschafft ihr ein wenig Zeit zum Durchatmen.

Marina Reich trägt es mit Fassung. Sie ist Optimistin, gehört zu den „leidenschaftlichen“ Pädagogen, auch nach 16 Jahren Schuldienst. Sie nimmt ihren Schülern so schnell nichts übel, kann über vieles lachen, setzt sich mal energisch, mal ganz leise, aber immer souverän durch. Frau Reich arbeitet in der Poelchau-Oberschule in Charlottenburg-Nord, einer integrierten Gesamtschule mit Ganztagsbetreuung. Sie arbeite gern dort, lobt die gute Zusammenarbeit unter den Kollegen, die „lockere Atmosphäre“. Nach einigem Nachfragen läßt sie aber auch die Schattenseiten durchblicken. Was dem Kollegium an der Poelchau-Schule auf der Seele lastet, ist die Zusammensetzung ihrer Klientel.

Von den 155 Schülern der achten Jahrgangsstufe, erklärt Reich, hätten drei eine Empfehlung fürs Gymnasium und sechs für die Realschule. „Viele sind eigentlich Sonderschüler, die hier nicht hingehören.“ Da bleibt ein gewichtiger Teil des Unterrichtsstoffs auf der Strecke. Von der im Schulgesetz immer noch festgeschriebenen Drittelparität – je ein Drittel Gymnasiasten, Realschüler und Hauptschüler – ist die Gesamtschule meilenweit entfernt. „25 bis 30 Prozent der Schüler verlassen uns nach der achten Klasse“, erzählt ein Lehrer. Viele Jugendliche haben Probleme mit der deutschen Sprache. Der Ausländeranteil liegt in einzelnen Klassen bei 50 Prozent.

Der Grund für diese Situation? Poelchau ist in Verruf geraten. Um ihnen das Abitur als Eintrittskarte für den überlaufenen Arbeitsmarkt zu sichern, schicken Eltern ihre Kinder lieber aufs Gymnasium. Mütter und Väter verfolgen die Entwicklung einer Schule mit feinen Sensoren. In Poelchau, so haben sie entschieden, gingen die Verlierer zur Schule, die es anderswo nicht geschafft haben. Ihre Kinder sollen zu den Gewinnern gehören. Aus den umliegenden Grundschulen werden so gut wie keine Schüler mehr angemeldet.

Angelegt war Poelchau auf sechs Parallelklassen, heute kann nur noch eine von vier Klassen eines Jahrgangs mit eigenen Anmeldungen gefüllt werden. Da die Schule an der U-Bahn-Linie 7 liegt, kommen die meisten Schüler aus Problembezirken wie Neukölln und Kreuzberg. In diesen kinderreichen Bezirken sind die Gesamtschulen überfüllt. Dort suche man sich die Besten heraus, wer übrigbleibe, werde auf die Poelchau-Gesamtschule geschickt, so lautet das bittere Resümee von Helmut Eichmann, Pädagogischer Koordinator.

Fragt man die Schulleitung nach den Ursachen für diese Misere, kommt ein ganzes Bündel ungünstiger Faktoren auf den Tisch. Schon der Start der Schule in der Euphorie der Gesamtschul-Gründerjahre Anfang der Siebziger barg den Keim für das spätere Scheitern in sich. Die modernen Bauten, erstellt nach Reformkonzepten der offenen Schule, mit einer pädagogischen Rundumversorgung von der Krippe über das Jugendzentrum bis zur Stadtteilbibliothek, erhielten bald die Note „mangelhaft“. Im ersten Jahr fand der Unterricht in sogenannten offenen Buchten statt, einem Import aus den USA. Die Unterrichtsräume waren vom Flur nur durch eine Sichtwand abgetrennt. Zwar ein überaus fortschrittliches Konzept, aber leider auch äußerst störanfällig. Schon ein Jahr nach der Schulöffnung wurden die offenen Buchten zugemauert.

Hinzu kam eine ungünstige politische Konstellation. Charlottenburgs Schulverwaltung stand 1973 unter CDU-Ägide. Der erste Schulleiter wurde dem Kollegium von „oben“ verordnet. Was für Eichmann nach wie vor schwerwiegt, ist das Fehlen einer integrierten gymnasialen Oberstufe, die zunächst versprochen worden war, aber dann ausblieb.

Ingo Marx, Leiter des Referats Gesamtschulen im Schulsenat, stuft die Poelchau-Oberschule mit ihrem hohen Anteil an Hauptschülern als Extremfall ein. „Es gibt Ausreißer nach oben und nach unten.“ Daß sich im Durchschnitt die ursprünglich angestrebte Drittelparität nicht erfüllt habe, räumt Marx ein. In der Realität seien rund die Hälfte der Schüler Hauptschulempfohlene, die andere Hälfte Realschulempfohlene. Wer fürs Abi vorgesehen ist, geht aufs Gymnasium.

Dennoch sieht Marx im Berliner Modell einer integrierten Gesamtschule eine konsolidierte Schulform. „Das Verteilersystem ist seit über dreißig Jahren stabil. Berlinweit gingen im Schuljahr 1995/96 30 Prozent der Grundschulabgänger auf eine Gesamtschule, 37 Prozent haben von Anfang an Wert auf die Vergleichbarkeit von Leistungen in den verschiedenen Schulformen gelegt“, sagt Marx. Der Vorzug der Gesamtschule sei neben dem sozialen Lernen immer noch die hohe Durchlässigkeit – über 50 Prozent der hauptschulempfohlenen Schüler machen einen besseren Abschluß. Letztlich laufe alles auf ein zweigliedriges Schulsystem hinaus, Gymnasium und Gesamtschule.

Die Misere in Poelchau sei teilweise durch „überzogene schulreformerische Vorstellungen“ selbst verschuldet. Den Vorwurf, verhaltensauffällige und lernschwache Schüler würden aus anderen Schulen nach Poelchau abgeschoben, läßt Marx nicht gelten. „Die Eltern bestimmen, wo ihre Kinder zur Schule gehen. Poelchau kommt für viele Eltern nicht in Frage, da es keine gymnasiale Oberstufe hat.“ Poelchau werde offenbar nur von den Eltern gewählt, die für ihre Kinder woanders keine Chance sehen. Der Rettungsanker für Poelchau sei keine strukturelle Reform, sondern eine „pädagogisch- inhaltliche Profilierung“.

Mit dieser Ansicht rennt er offene Türen ein. Poelchaus Schulleiter Rüdiger Barney schwebt eine Spezialisierung in Richtung „moderne Technologien“ vor, „Handeln und Verwalten, EDV- Vernetzung“. Er wolle in der Schule, auch nach außen hin, wieder Leistung in den Vordergrund stellen, weg vom „Laisser-faire- Prinzip“ der siebziger Jahre. „Wir dürfen nicht mehr so viele Schüler aufnehmen, die Radau machen.“ Barney wie Eichmann vergleichen ihre Schule mit einem Unternehmen, möchten „modernes Management“ und corporate identity einführen. „Es hängt viel von der Initiative der Lehrer ab. Ihre Motivation hat sich verbraucht“, sagt Eichmann. Die materielle Ausstattung sei nach wie vor vorbildlich, besonders das Raumangebot sei großzügiger als anderswo. Labore, Werkstätten, Hörsäle, Fachräume – mit diesen Pfunden müsse man wuchern. PR-Kampagnen und ein klares Profil sollen Poelchau wieder attraktiv machen.

Laisser-faire? Im Englischunterricht von Reich ist davon nichts zu spüren. Auch wenn die bunte Truppe aus deutschen und ausländischen Schülern ausgiebig damit beschäftigt ist, den Unterhaltungswert der sechsten Stunde zu heben, die Zensuren sind niemandem egal. Sie entscheiden über den Verbleib im Leistungskurs oder die Rückstufung in den Grundkurs.

Auf der großen „Schulstraße“, einer offenen Wandelhalle mit Litfaßsäule und Bänken, haben sich die Jugendlichen zu kleinen Grüppchen formiert. An den Wänden hängen die üblichen Projektdokumente, Zeitungsausschnitte, Werke aus dem Kunstunterricht, Wissenswertes über den Namenspatron Harald Poelchau. Carsten aus Schöneberg, 16 Jahre alt, ist von der Otto-von-Guericke-Schule gekommen. Das 10. Schuljahr hätte er dort nicht geschafft, sagt er. „Hier ist es leichter“, die Lehrer seien nicht so streng und die Schüler eher locker.

Und wie sieht die Freizeit aus? Ein großer, breitschultriger Junge mit der hier obligatorischen Baseballkappe: „Rauchen. Sonst geht man spazieren – vielleicht erwischt man ja einen Lehrer.“ Er lacht über seinen Witz. Eine Traube Jugendlicher hat sich am Eingang gebildet, es gibt eine Schlägerei. Niemand greift ein. „Das ist alltäglicher Alltag“, witzelt ein Schüler. Katja (15): „Die Schule ist nicht so schlecht, wie die Leute sagen. Besser eine Schläger- als eine Drogenschule.“

Marina Reich war bisher ausschließlich an der Poelchau-Schule tätig. Nur nach der Maueröffnung machte sie eine Hospitanz an einer Pankower Schule. Dort traute sie ihren Augen nicht: „Da sagte der Lehrer: ,Legt die Stifte hin!‘, und die Schüler legten tatsächlich ihre Stifte hin.“ Der Unterricht verlief ruhig und diszipliniert. Zu ruhig, findet Reich heute. „Es gab kaum Diskussionen.“ Ihre Schüler diskutieren fast immer, „und manchmal überraschen sie mich“, sagt die Lehrerin mit verklärten Augen, „manchmal bringen sie was völlig Überraschendes“. Darauf will sie nicht verzichten.

* Name geändert