Sex kann dich helle machen

Aufklärungsliteratur: Zwei pornographische Romane aus dem vorrevolutionären Frankreich  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Bücher, in denen es um Sex geht, sind immer interessant. Gerade im Sommer und selbst, wenn die meisten dann eher enttäuschen. Die Enttäuschung mag auch damit zu tun haben, daß einen Mitte Dreißig das Sexuelle nicht mehr ganz so sehr in komplizierte Verwirrungen versetzt, oder auch damit, daß die öffentliche Rede über Sexualität inzwischen auch die einst verborgenen Lüste erfaßt, vergleichgültigend ausgestellt und dabei ihr Pathos eingebüßt hat.

Das mag man bedauern – als Profanisierung – oder begrüßen – als Demokratisierung –, jedenfalls wirken inzwischen auch die berühmten Standardwerke, die die „Diskursivierung“ der Sexualität als eine besonders perfide Methode der Macht beschreiben, alles und jeden per Geständniszwang zu kontrollieren, etwas verstaubt.

Der zum Reden gebrachte Sex changiert heute durchgedreht zwischen der Propagierung einer konsumistisch-infantilen Obszönität (Talkshows, Beate Uhse usw.) und einem neuen Puritanismus: wie etwa im College in Antioch, Ohio, wo jeder Schritt während eines Flirts laut und deutlich verbalisiert werden muß. Etwa: „,Darf ich meine Hand auf deine Schulter legen?‘ ,Ja, du darfst deine Hand auf meine Schulter legen.‘ Die jeweilige Erlaubnis muß laut und präzise geäußert werden. Eine Zustimmung unter Alkoholeinfluß ist wertlos. Sollte es dennoch zu Intimitäten kommen, ist der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt.“ (Spiegel-Extra)

„Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, daß sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern daß sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen“, schrieb Michel Foucault vor 20 Jahren in seinem kämpferischen Buch „Sexualität und Wahrheit“, an dem sich mehrere Studentengenerationen abgearbeitet haben. Davon, daß der erste Teil des Satzes immer noch gilt, kann sich jeder Kioskbesucher überzeugen. Als „Geheimnis“ oder Schlüssel zum Glück wird Sex eher selten und bestenfalls noch in katholischen Gebieten verkauft.

Schätze aus der „Hölle“ der Literatur

Abgesehen von rührigen Anachronismen, wie dem „Jahrbuch der Erotik“ (konkursbuch), und der mehr oder weniger trashigen Sexy Reihe aus dem „Taschen- Verlag“, wird Sex mittlerweile vor allem als soziales oder juristisches Problem (Teenie- und Kindersex, Frauenhandel, Vergewaltigung in der Ehe, fehlende soziale Absicherung entrechteter Prostituierter usw.) oder als die eher trostlose technische Utopie einer Sexualität ohne Geruch und Körperflüssigkeiten („Cybersex“) abgehandelt. Vom Zauber verborgener, nicht an Geld gebundener Glücksmöglichkeiten ist in der gegenwärtigen öffentlichen Rede über Sexualität sowenig zu spüren wie in der zeitgenössischen Pornographie.

So erscheint die Welt alter Sexromane, in denen die Lüste noch abgefeiert werden wie ein untergegangenes Wunderland. Um so mehr, als die Literatur, um die es hier geht, noch nicht allzu lange öffentlich zugänglich ist.

Pornographische Literatur wurde zwar immer schon archiviert, sie blieb aber in den Spezialabteilungen der großen Bibliotheken verschlossen. Am berühmtesten ist die ab 1836 eingerichtete Abteilung „l'enfer“ (Hölle) der Pariser Bibliothèque Nationale. Als ihre Bestände 1911 von Guillaume Appollinaire katalogisiert wurden, umfaßte sie 930 Werke, ein 1978 erstellter wissenschaftlicher Katalog listet 1.730 Titel auf. Erst 1980 wurde „l'enfer“ aufgelöst. Unter dem Titel: „L'enfer de la Bibliothèque Nationale“ erschien zwischen 1984 und 1988 eine reichhaltige Kostprobe im Verlag Fayard.

In Deutschland tut man sich mit solchen Dingen bislang eher schwer. Der im Frühjahr in der „Anderen Bibliothek“ erschienene Band „Denkende Wollust“, mit zwei Werken aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts und einem begleitenden Essay von Robert Darnton, ist zwar – angesichts der Vielzahl der Werke, die in der „Blütezeit der Pornographie“ im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich erschienen – etwas knapp geraten, aber nichtsdestotrotz ein lobenswerter Beginn. Im einleitenden, ursprünglich in der New York Review of Books veröffentlichten Aufsatz „Denkende Wollust oder die sexuelle Aufklärung der Aufklärung“ weist Robert Darnton nach, daß sich in den Romanen des „goldenen Zeitalters der Pornographie“ (von 1650 bis 1800) die Schilderung amouröser Abenteuer – wie bei den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts – stets mit der Kritik an den herrschenden Verhältnissen verband.

Anders als in der Gegenwart galt die frühneuzeitliche Pornographie in den Augen ihrer Zeitgenossen als „kein klar umrissenes literarisches Genre. Sie gehörte vielmehr zu einer übergreifenden Kategorie, die man als ,philosophisch‘ bezeichnete.“ Das heißt, „die Figuren masturbieren und kopulieren und diskutieren dann über Ontologie und Moral, um für die nächste Runde des Genießens wieder Kraft zu tanken“.

Anstoß genommen wurde dabei nicht so sehr an der erotischen Freizügigkeit jener Romane. Niemand, so Darnton, dachte im sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert daran, „Bücher aufgrund ihrer Unsittlichkeit, die man heute als pornographisch bezeichnet, zu verbieten. Religion – und nicht die Sexualität – setzte die Hauptgrenzlinien zum streng Verbotenen.“ Wobei sich in der vorrevolutionären Pornographie auch topographisch die Doppelfunktion von Erregung und antiklerikaler Propaganda niederschlägt: Klöster und Bordelle werden stets als zwei Versionen ein und derselben Sache dargestellt.

Via Pornographie wurden schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Ideen der Aufklärung – Natur, Glück, Freiheit und Gleichheit – propagiert; am Vorabend der Revolution dienten Sexbücher vor allem als Vehikel der Sozialkritik, und auch nach 1789 „stellte die Pornographie ein ganzes Arsenal von Waffen zur Verfügung, um Aristokraten, Klerikern und der Monarchie Prügel angedeihen zu lassen“.

Selbstbewußtsein durch Masturbation

Auch die Gleichheit der Geschlechter wurde – von den männlichen Autoren, die oft als weibliche Ich-Erzähler schrieben – propagiert. Sowohl Männer als auch Frauen ejakulieren beim Orgasmus. Die Lust der Frau ist für die Fortpflanzung entscheidend, denn es kann erst zur Befruchtung kommen, wenn die beiden Flüssigkeiten sich miteinander vermischen.

„Es wäre töricht, ein modernes Argument für die Befreiung der Frauen in alte Texte hineinzulesen, die in erster Linie geschrieben wurden, um Männer zu erregen“, räumt Darnton zwar ein, „die Texte bringen aber auch Ideen zur Geltung, die allzu einfache Vorstellungen von der Phallokratie unterlaufen.“

In manchen Texten lassen sich durchaus feministische Themen entdecken: „Im Jahre 1680 protestierte ,L'Académie des Dames‘ gegen den einseitigen gesellschaftlichen Kodex, der die Frauen ,der Unmenschlichkeit der Männer‘ unterwarf. Obwohl Frauen größeren Sexualgenusses fähig seien, werde den Männern größere Freiheit zugebilligt, ihm zu frönen.“ In zahlreichen anderen Romanen erwachen die Heldinnen mit dem Beginn ihrer sexuellen Aktivitäten auch zu intellektuellem Selbstbewußtsein. „Die Literatur des ,Enfer‘ hat sogar ein eigenes Wort dafür: ,déniaiser‘, die eigene Torheit durch sinnliche Erfahrung hinter sich lassen. „In ,Lécole des filles‘ ist Fanchon (die Heldin) so lange dumm und unterwürfig, bis sie anfängt, Liebe zu machen: ,Bisher war ich gut, um zu nähen (...), jetzt aber kann ich alle möglichen Dinge tun. Ich halte Reden, als ob ich ein anderer Mensch wäre, und habe, anders als früher, keine Angst mehr, den Mund aufzumachen.‘“

Die Entdeckung einer Verbindung zwischen Gesellschaftskritik und Pornographie, zwischen Emanzipation und Sex, zwischen Erotik und Philosophie ist zwar nicht unbedingt neu – sie war schon Thema vieler literarischer Avantgardebewegungen – dennoch ist es sehr interessant nachzulesen, wie sie en détail funktionierte.

Am meisten Spaß macht es jedoch, die beiden Romane – „Die Geschichte des Dom Bougre“ von Jean-Charles Gervaise de Latouche (1740) und „Thérèse philosophe“ von Jean-Baptiste d'Argens (1748) zu lesen. Die Geschichten sind eher simpel – „Dom Bougre“ ist die turbulente Lebensgeschichte eines Kartäusermönchs, der alibimoralisch am Ende für seine Kapriolen denn doch bestraft wird und auch bereut; „Thérèse philosophe“ ist eine Mischung aus philosophischem Traktat und delikaten Begebenheiten. Sie erfreuen vor allem im Detail. Etwa wenn klassische Lehren der Kirchenväter variiert werden.

Nach Augustinus ist die Sexualität erst nach der Vertreibung aus dem Paradies entstanden. Zuvor wären die Genitalien dem Willen der Menschen unterworfen gewesen. Danach machten sie sich als Agenten des Bösen selbständig. Im Paradies war die Nacktheit „noch nicht schimpflich, weil die Wollust diese Glieder noch nicht wider Willen in Erregung versetzte, noch nicht das Fleisch durch seinen eigenen Ungehorsam wider den Ungehorsam des Menschen anklagend Zeugnis ablegte“. So seien die Genitalien „gleichsam das strafende Zeugnis ihrer eigenen Widerspenstigkeit“ (vom Gottesstaat). In „Thérèse philosophe“ gibt es eine Parallelstelle, die in ihrer Lüsternheit den sozusagen pornographischen Kern der christlichen Sexuallehre entblößt. Ein Pater belehrt die junge Novizin über die Gefahren der Sinnlichkeit: „Berühren Sie niemals (...) mit der Hand, ja nicht einmal mit den Augen jenen schändlichen Teil, mit dem Sie pissen und der nichts anderes ist als der Apfel, der Adam verführt und das Menschengeschlecht durch die Erbsünde in Verdammnis gestürzt hat. In ihm wohnt der Dämon, hier hält er sich auf, und hier steht sein Thron. (...) Bald wird die Natur diesen Körperteil mit häßlichen Haaren bedecken, dem Fell gleich, das die Tiere tragen, um durch diese Strafe anzuzeigen, daß Scham, Dunkelheit und Vergessen sein Los sind. Noch mehr aber hüten Sie sich vor jenem Stück Fleisch der Knaben Ihres Alters, womit Ihr Euch auf dem Dachboden vergnügt habt: Es ist die Schlange, die unsere gemeinsame Mutter Eva in Versuchung führte. Lassen Sie, meine Tochter, Ihre Augen und Finger niemals durch dieses garstige Tier besudeln, es würde Sie stechen und früher oder später unfehlbar verschlingen.“ Usw. usf., je länger, desto trashiger. Die Lust ist auf die Rede übergegangen, an der sich der Pater wiederum onanierend berauscht.

Wunderbar ist auch die krud- maschinistische Gegenrede, mit der die Libertins in „Dom Bougre“ die Liebe als Ideologie entlarven. „Denn wenn man sagt: Monsieur ist in Madame verliebt, so ist dies das gleiche, wie wenn man sagte: Monsieur hat Madame gesehen, ihr Anblick hat Begierden in seinem Herzen geweckt, er brennt darauf, seinen Schwanz in ihre Möse zu stecken. Genau das will man damit sagen. Aber da die Schicklichkeit nicht will, daß man diese Dinge ausspricht, ist man übereingekommen zu sagen: Monsieur ist verliebt.“

Vielerlei schöne, unterhaltsame und lehrreiche Dinge gibt es also in der frühneuzeitlichen Pornographie zu entdecken, und Bücher, in denen Sätze stehen wie dieser, können ohnehin nicht ganz schlecht sein: „Ich reise ab, wir sind unterwegs, wir kommen an, und so sind wir nun im Kloster.“

Robert Darnton: „Denkende Wollust“. Eichborn Verlag, 1996, 344 Seiten, geb., 48 DM