Im Herzen des Traums

Das fatale Jahr 1968: Der demokratische Parteitag in Chicago wiederholt US-Geschichte. Für Wiederholungen bietet sich diese Stadt geradezu an  ■ Aus Chicago Reed Stillwater

Das ist wie Déjà vu: Vom Flughafen bis zum Hotelzimmer begrüßt einen Bürgermeister Daley. Wo man hinsieht oder hingeht, irgendwo prangt immer der Schriftzug „Richard Daley Mayor“. Böse Zungen sagen, Daley sei für Chicago, was Kim Il Sung für Korea war. Oder eher Kim Jong Il, denn der große alte Mann ist tot. Nein, nicht Kim Il Sung; ja, doch, der auch, aber gemeint ist immer noch Richard Daley...

Verwirrt? Ja, so ist das mit Déjà vu. Also noch mal von vorne: Auf den Wochentag genau fand vom Montag dem 26. bis Donnerstag den 29. August in Chicago der Parteitag der Demokraten statt, 1996 wie 1968. Heute wie damals war Daley Bürgermeister. Damals herrschte unumschränkt Richard J. über die Stadt, eine Mischung aus Kurfürst und Statthalter. Sein Bild und sein Schriftzug prangten überall: „Welcome to Chicago.“ Der Parteitag war seine große Schau, die Krönung seines politischen Lebens, und die wollte er sich nicht von ein paar Verrückten verderben lassen. Also setzte er die Nationalgarde und seine Polizei in Bewegung, die ohnehin schon den Ruf hatte, die brutalste und korrupteste im ganzen Lande zu sein. Was folgte, steht in den Geschichtsbüchern. August 1968 war für Chicago das, was April 1968 für Berlin, Mai 1968 für Paris und August 1968 für Prag waren.

Heute regiert Richard M. Daley, der Sohn des großen alten Mannes. Tom Hayden, einer der Prominenten, die damals auf der Michigan Avenue vor dem Hilton- Hotel niedergeknüppelt wurden, wohnt heute im Hilton drin, als Delegierter beim Parteitag der Demokraten. Und was sich heute vor dem Hilton abspielt, ist jene Farce, als die sich Geschichte wiederholt.

Wurden damals die Demonstranten mit einer Brutalität aus den Parks getrieben, der die Delegierten fassungslos aus ihren Hotelfenstern zuschauten, feiern sie heute unbehelligt im Grant Park das Festival of Life. Damals mobilisierte der Vietnamkrieg Tausende, heute protestieren ein paar Hundert gegen den „Krieg gegen Drogen“. Die Parkverwaltung erteilte die Genehmigung und stellte Lautsprecheranlage sowie Wasser und Klos.

Nun ja, wegen der Klos kam es zu einem Mißverständnis, so daß der Sturm von damals sich heute gleichsam als Sturm in der Kloschüssel wiederholt hat: Die Bereitstellung der Klos sollte nach Auskunft der Organisatoren nämlich die Kleinigkeit von 22.000 Dollar kosten. Man beschloß, lieber die Einrichtungen des nahen Hilton in Anspruch zu nehmen. Als sich dann der Demonstrationszug die Michigan Avenue hinab bewegte und am Hilton vorbeikam, „mußten“ auf einmal alle. Polizei und Hotelpersonal verriegelten panikartig die Türen. Das Ganze war ein großer Spaß. Nur zwei wollten den Kampf ausfechten, und die Polizei hatte Anweisungen, jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Auf keinen Fall dürfe sich 1968 wiederholen. Aber die Statue General Logans gegenüber vom Hotel, die damals von den Demonstranten erklommen wurde, ist diesmal eingeseift worden, um sie unerklimmbar zu machen.

„Welcome to Chicago.“ Dies ist nicht irgendeine Stadt in den USA, sondern die Stadt der Demokraten. Nirgends kann man so gut studieren, wie sich in den USA Loyalitäten bilden und wie Macht entsteht. „Ich konnte einen Klingelknopf drücken, bevor ich eine Tür aufdrücken konnte“, sagt Morine M. Murphy, delegierte des 6th District in Illinois. Politisch groß geworden ist sie noch zu Zeiten Bürgermeister Cermaks, der als Erfinder der sogenannten „Machine“ gilt, jenes Machtapparats, der wie ein Einparteiensystem funktioniert. Es heißt, die Machine sei so tot wie der alte Daley. Mag sein – aber die Methoden haben sich nicht geändert: Politische Macht beginnt an der Basis, und die befindet sich hinter Dutzenden von Haustüren.

Von klein an geht, wer in Chicago politisch etwas werden will, von Tür zu Tür, verteilt Flugblätter, registriert Wähler und erkundigt sich danach, ob es etwas gibt, worum der Stadtverordnete, genannt „Alderman“, sich kümmern sollte. Organisiert werden diese Klinkenputzerkolonnen vom „Precinct Captain“. Der sammelt, bündelt und liefert dem Stadtverordneten die Stimmen, und der erweist sich erkenntlich. Nur wer Stimmen abliefern kann – mindestens die eigene und möglichst die seiner Straße oder des ganzen Wahlkreises –, bringt es zu etwas. Denn wer kraft dieser Stimmen ein Amt hat, hat Aufträge zu vergeben. Straßen müssen repariert, Parks gepflegt, Gaststätten inspiziert, Autos zugelassen werden.

Mancher „Alderman“ bringt so viele Stimmen ein, daß sogar der Bürgermeister auf ihn angewiesen ist, und auf manchen Bürgermeister in den USA ist sogar der Präsident angewiesen – allemal auf den Bürgermeister von Chicago, weshalb er auch den Parteitag in Chicago einberuft.

Nicht, daß das anderswo viel anders funktionierte, aber nirgends in den USA ist dieses System zu solcher Perfektion getrieben worden wie in Chicago, und niemand handhabte die Machine so virtuos wie Bürgermeister Daley – der alte, versteht sich.

Auf den Einwand, daß es auf diesen Multimediaereignissen, zu denen Parteitage verkommen sind, nichts mehr zu debattieren, zu beraten, zu entscheiden gäbe, schaut Morine Murphy etwas erstaunt auf. Dann senkt sie die Stimme, als ginge dies die Öffentlichkeit nichts an: Was man denn für Vorstellungen davon habe, was innerhalb der Delegation von Illinois auf dem Parteitag vorgehe? Als gäbe es nur einen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren. „Auf lokaler Ebene sind auch Wahlämter zu vergeben, die County Supervisers und Stadträte.“ Es sind in den USA ja nicht nur Exekutive und Legislative wählbar, auch Schulaufseher, Staatsanwälte, Richter, Sheriffs, Gemeindevorsteher und Stadtkämmerer werden gewählt. Alle haben Einfluß, alle haben Posten zu vergeben. Der County Commissioner von Cook County, in dem Chicago liegt, ist einer den mächtigsten Männer Amerikas. Wer Commissioner wird, ist für die meisten Chicagoer wichtiger, als wer Präsident der Vereinigten Staaten wird.

So ähnlich sieht das Michael James auch. Dessen Foto ging 1968 um die Welt, als er eine Poizeiwanne umzustürzen versuchte. Heute betreibt er in einem der ethnisch diversesten Teile Chicagos das populäre Heartland Café und gibt das Heartland Journal heraus. „Das haben wir von Ho Chi Minh gelernt, daß alles langfristig angelegt sein muß“, sagt er. „Hier mischen wir uns auf lokaler Ebene ein, bestimmen Flächennutzungspläne mit, stellen unser Café Bürgerinitiativen und Kandidaten zur Verfügung. Hier denken wir darüber nach, wie man vom Berg wieder ins Tal kommt. Denn die soziale Bewegung wird wieder erstehen!“ Ob er Bürgermeister werden will? Pause. Längere Pause. „Das wäre nicht ausgeschlossen.“

Manches Déjà vu ist geradezu unheimlich. Der strahlende junge Mann sieht aus wie sein Vater, redet wie sein Vater und hat dessen liebenswürdigen Charme und seinen ansteckenden Optimismus. Man muß wirklich zweimal hinschauen. Nein, das ist wirklich nicht Abbie Hoffman, einer der „Chicago Eight“ von damals, denen ein Jahr nach den Aufständen von Chicago der Prozeß gemacht wurde. Der ist tot – viel zu jung gestorben, wie viele seiner Generation –, und wer da wie sein Wiedergänger aussieht, ist Andrew Hoffman, sein Sohn. Auf die Ähnlichkeit mit seinem Vater angesprochen, gesteht er, daß er stundenlang Interviews für seinen Vater am Telefon gegeben hat, ohne daß je ein Journalist etwas gemerkt hätte.

Andrew Hoffman trägt eines jener T-Shirts, die ein Witzbold bei der Polizei hat anfertigen lassen und die im Chicago Police Department reißenden Absatz gefunden haben sollen: We Kicked Your Father's Ass In 1968 – Wait Till You See What We Do To You (Wir haben deinem Vater 1968 den Arsch versohlt, warte nur, was wir mit dir machen). Er hat es als Raubdruck nachgemacht und verkauft es von seinem Minilaster. Besonders Journalisten reißen sich darum. Sein Minilaster ist in den Farben der US-Flagge bemalt und trägt die Aufschrift: „Suppenküche auf Rädern“. Damit fährt er landauf, landab, sammelt Geld, verteilt Nahrungsmittel. „Ich habe den Familienbetrieb übernommen“, sagt er. Und das bedeutet Organisation an der Basis, und auch die beginnt meist mit dem Klingelknopf. Was er hier will, in Chicago 1996? Der Mann hat ein Strahlen, das einen entwaffnen kann. Clinton unterstützen, was sonst! „Clinton war einer von uns“, sagt Hoffman. „Es ist Zeit, daß er zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Und das tut er, indem er nach Chicago kommt. Dies hier ist Heartland. Chicago ist das Herz Amerikas, hier wird die Bewegung wieder auferstehen.“

Und so ähnlich sieht das auch John Schultz. Der ist heute Professor für Kreatives Schreiben, und der Schock von 1968, den er als 37jähriger erlebte, hat ihn nicht losgelassen. Zwei Bücher hat er zum Thema geschrieben, und er arbeitet an einem dritten. „1968 war ein Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte. In Amerika gab es damals eine Mehrheit für einen sozialdemokratischen Weg. Die Ereignisse von Chicago haben das Land und das politische Spektrum nach rechts verschoben.“ Und warum kommen die Demokraten heute wieder nach Chicago? „Die Wunden von 1968 sind noch offen. Ohne Heilung kommen weder die Demokratische Partei noch das Land weiter.“ Nach einigem Nachdenken fügt er hinzu: „Manchmal ist es im Leben eines Menschen oder einer Nation möglich, an eine Wegscheide zurückzukehren, und manchmal kann man versuchen, den anderen Weg zu nehmen, der damals nicht gegangen wurde. Ich glaube, daß Clinton das will, und ich glaube, daß er – wenn er vorsichtig ist und die Mitte nicht verliert – die Nation in diese Richtung führen kann.“

Wer in der Arena des Parteitags miterlebt, wie die Brigade der Bauarbeiter, Tischler, Dekorateurinnen und Organisatoren einzieht, die das Baseballstadion in eine Tagungshalle verwandelt hat, wie sie zu den Klängen von „Workin' for a livin' – takin' what they're givin'“ auf die Bühne gerockt kommen, und wer sieht, wie der Saal mit seinen 4.000 Delegierten sich erhebt und mitrockt und für Minuten wie auf einer Raveparty außer Rand und Band gerät, der möchte nur zu gerne glauben, daß der alte John Schultz recht hat. Es wäre zu schön, um wahr zu sein.