Differenzierungshund

■ Die Gauck-Behörde hat das „Wörterbuch der Staatssicherheit“ neu herausgegeben

Ein öderes Präsent wurde nie überreicht. Anläßlich des 20. Jahrestags der Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit im Jahr 1970 machte die Hochschule der „Firma“ in Potsdam-Golm ihrem Chef Erich Mielke das „Wörterbuch der Staatssicherheit“ zum Geschenk. Wissenswertes zum Thema „Wie ich ein guter Kundschafter werde“ war in dieser Loseblattsammlung nicht enthalten. Die Arbeit, an der sich auch zahlreiche Studenten der Hochschule beteiligt hatten, stellte sich als Definitionensammlung dar. Sie legte fest, welcher Begriffe sich die Hauptamtlichen exakt zu bedienen hatten. Die Auflage von ein paar Hundert Exemplaren wurde gleichmäßig auf die Diensteinheiten in Berlin, die 15 Bezirksverwaltungen und die Stasihochschule verteilt – als geheime Verschlußsache. Mielke, der für „Wissenschaftliches“ wenig übrig hatte, lobte das Werk pflichtgemäß. Der Zuspruch aber blieb mäßig.

1985 kam die zweite Auflage heraus. 400 Stichworte der ersten Auflage, darunter alle, die die „feindlichen“ Geheimdienste charakterisierten, fielen weg, über 500 kamen hinzu, womit sich die Gesamtzahl der Stichworte von 747 in der ersten auf 855 in der zweiten Auflage erhöhte. Es war diese in kackfarbenem Kunstleder eingebundene Version, die den Rechercheuren der Gauck-Behörde 1992 in die Hände fiel, und die damals, als Material, herausgegeben wurde. Diese Woche ist das Wörterbuch, von Siegfried Suckut mit einem kundigen Essay und Erläuterungen versehen, von der Gauck-Behörde als schmuckes Buch der Stasireihe im Ch. Links- Verlag präsentiert worden.

Die Neuherausgabe ist gerechtfertigt. Die Stichworte entwerfen ein präzises Bild davon, was und wie die Stasimilitanten zu denken hatten und wohl auch überwiegend dachten. Im Duktus zeigt sich das Wörterbuch als Kind des bürokratisch-sozialistischen Weltbilds, wovon die durchgängige Substantivierung von Verben und wortreiche tautologische Definitionen zeugen.

Hier finden wir unter dem Stichwort „Geruchsdifferenzierung“ den „Differenzierungshundeführer“, der den „Differenzierungshund“ an der Leine führt. Die in dem Werk zutage tretende Haltung ist hart und klassenkämpferisch. Was Viktor Klemperer in seiner „LTI“ für die Nazis nachwies, die positive Umwertung bislang negativ besetzter Verhaltensweisen, läßt sich auch für das Wörterbuch zeigen. Instruktive Hauptbeispiele: Haß, Feind, Feindbild.

Wichtiger als diese Schlaglichter auf die Stasimentalität ist ein Dilemma, das das Wörterbuch durchzieht: 1975 hatte die DDR die KSZE-Akte in Helsinki unterzeichnet, womit sie sich auch verpflichtete, den Menschenrechtskatalog der Akte einzuhalten. Damit war der staatsfeindlichen „Diversion“ ein neues, unermeßlich weites Feld eröffnet. Einerseits galt es, im internationalen Rahmen, zum Beispiel bei der Menschenrechtskommission in Genf, einigermaßen respektabel aufzutreten, andererseits mußte im Innern entschlossen gegen die „Menschenrechtsdemagogie“ vorgegangen werden.

Das Stichwort „Einmischung“ erhellt die Abwehrstrategie auf juristisch-politischem Gebiet, das der „politisch-ideologischen Diversion“ versucht sich in strategischer Analyse. Dabei ist weniger interessant, daß Diversion und politische Untergrundtätigkeit hauptsächlich als außengesteuert angesehen werden – das war zu erwarten. Viel mehr verblüfft, in welchem Ausmaß das MfS ignorierte, wie vielfältig, in sich zerspalten (und damit ausnutzbar) die politisch-ideologische Landschaft im Feindesland war.

Exemplarisch zeigt sich das im Umgang mit dem Begriff der „Entspannung“, dem kein eigenes Stichwort gewidmet wird, der aber, wo er vorkommt, ausschließlich als Instrument des Mißbrauchs, der ideologischen Wühlarbeit bestimmt wird. So zeigt uns das Wörterbuch, daß die „Firma“, die über so viele „Schwerter und Schilde“ verfügte, letzlich doch ungerüstet war. Christian Semler