Katharsis in Chicago

■ Der Parteitag der US-Demokraten ist Show

Der Chicagoer Parteitag 1996 ist ein Medienereignis. Das war der von 1968 auch. Draußen Straßenschlachten, drinnen ideologische Saalschlachten. Johnson hatte versprochen, Humphrey zu „zerstören“, sollte er sich gegen den Vietnamkrieg stellen. Das war noch Dramatik, da ging es noch um etwas. Sollen wir uns wünschen, daß der Parteitag Chicago 1996 auch so abläuft?

Chicago 1968 war ein Wendepunkt. Von da an begann die Wahlbeteiligung kontinuierlich zu sinken. Wer politisches Engagement wecken will, muß sich etwas einfallen lassen. Die Organisatoren amerikanischer Parteitage wissen, daß die Wähler wenig Lust auf langweilige Politikerreden oder politisches Hickhack haben. Sie wissen, daß Politik Emotionen aufrühren muß und der Begeisterung bedarf. Gewiß kann man über die Inszenierungen moderner amerikanischer Parteitage die Nase rümpfen. Sie sind allemal vergnüglicher als die endlosen Debattenparteitage europäischer Prägung.

Lachen und Weinen, darum geht es auf diesen Parteitagen neuen Typs. Es geht um Empathie, Mitleid und Begeisterung. Man wirft das so leicht hin: „Hollywood-Show“. Als wenn noch keiner mit Tränen in den Augen oder erhobenen Herzens aus einem Hollywood-Film gekommen wäre. Das Konzept ist so alt wie die europäische Kultur, die alten Griechen hatten ein Wort und ein Konzept dafür: Katharsis, Reinigung der Seele durch das Wechselbad der Gefühle. Wer nach drei Tragödien und der obligaten Komödie das Theater verließ, sollte ein neuer Mensch sein – auch wenn darob nicht gleich die Sklaverei abgeschafft wurde.

Der Demokraten-Parteitag 1996 hat auch eine Message: Christopher Reeve und Hillary Clinton sprachen von der Notwendigkeit des Sorgens füreinander. Das ist ein neuer Ton und ein anderer als der, den die Republikaner anschlugen. Die Clintons haben ihr altes Programm neu aufgelegt: die Reform der Krankenversicherung als Ausdruck kollektiver Verantwortung. Was daraus im politischen Alltag werden kann, hat man in den letzten vier Jahren gesehen. Aber vom Tisch ist die Aufgabe nicht. Mit einer Partei, die sich für solche Ziele begeistern läßt, und mit einer Öffentlichkeit, die durch eine gute Show darauf eingestimmt wurde, ist es diesmal vielleicht möglich, einen Schritt weiterzukommen. Reed Stillwater