Theo Waigel: Ein Mann schreibt rot

■ Zahlen des Finanzministeriums zeigen: Das geplante Defizit 96 ist schon jetzt fast ausgeschöpft. Einnahmen gingen um über 20 Milliarden Mark zurück. Am Ende des Jahres winken insgesamt 80 Milliarden Mark neue Schulden

Berlin (taz) – Theo Waigel hat seinen Dispo ausgeschöpft. Nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums hat der Bund bis Ende Juli sein Konto 1996 schon um über 57 Milliarden Mark überzogen. 60 Milliarden Mark Schulden waren fürs ganze Jahr geplant. Der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Diller, sprach gestern von einem „haushaltspolitischen Kollaps“. Allein im Juli hatte sich Finanzminister Waigels Defizit noch einmal um 11,8 Milliarden Mark vergrößert.

Im Finanzministerium bemühte man sich gestern, die Bedeutung der Zahlen herunterzuspielen. Für eine Schätzung des Gesamtdefizits sei es noch zu früh. Man könne aufgrund der monatlichen Schwankungen überhaupt noch nicht sagen, wo man haushaltsmäßig stehe. „Jedes Jahr ist da anders“, erklärte eine Sprecherin.

Experten außerhalb des Finanzministeriums sind deutlich mutiger. Schon in den vergangenen Tagen hatten sich die Meldungen gehäuft, die auf ein zweistelliges Milliardenloch im Haushalt der Kohl- Waigel-Regierung hindeuteten. Die Bundesbank hatte in ihrem neuesten Monatsbericht eine „seit Jahresbeginn anhaltende Ausweitung des Kassendefizits“ beklagt. Es zeichne sich ab, daß das Haushaltsziel, das Konto 1996 um nicht mehr als 60 Milliarden Mark zu überziehen, „letzlich übertroffen wird“. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) rechnet in seinem gestrigen Wochenbericht mit einem Jahresdefizit von 76,5 Milliarden Mark statt der geplanten 60 Milliarden Mark.

Ein Teil der bisherigen 57 Milliarden Mark Defizit waren eingeplant. Auch im vergangenen Jahr hatten Waigels Beamte bis Ende Juli schon 37 Milliarden von letztlich 50,1 Milliarden Mark Neuverschuldung aufgehäuft. In der zweiten Jahreshälfte fällt die monatliche Neuverschuldung tendenziell geringer aus, weil zum Jahresende die Steuerzahler wegen des 13. Monatsgehalts und des Weihnachtsgeldes mehr an den Fiskus abdrücken. Außerdem stehen zum Jahresende mehrere Milliarden Mark an Rückzahlungen aus der EU-Kasse an.

Doch die wirklich klaffenden Löcher in Waigels diesjährigem Haushalt gehen auf schlampige Planung und eine dahinsiechende Konjunktur zurück. Von dem Geld, das Waigel 1996 durch den Verkauf bundeseigener Häuser, Anteile an der Lufthansa und der Postbank hereinbekommen wollte, sei noch nichts eingegangen, hieß es gestern bei den Sozialdemokraten.

Die Anteile an der Lufthansa werden dieses Jahr wohl überhaupt nicht mehr verkauft. Und auch mit der Veräußerung Tausender Wohnungen tut man sich schwer im Finanzministerium. Neun Milliarden Mark Einnahmen hat der Bundesfinanzminister aus Verkäufen eingeplant. Luftbuchungen seien das gewesen, schimpfte Diller.

Gleichzeitig blieben die Einnahmen in den ersten sieben Monaten 1996 deutlich hinter Waigels Prognosen zurück. Die Steuereinnahmen für Januar bis Juli 1996 sanken auf 204 Milliarden Mark. Im vergangenen Jahr hatten sie für den gleichen Zeitraum noch bei 227 Milliarden Mark gelegen. Vor allem die Einnahmen der Mehrwertsteuer, die nach Berechnungen des Finanzministeriums deutlich steigen sollten, tun dies derzeit nicht.

Auf der Ausgabenseite sind die Kosten der Arbeitslosigkeit deutlich höher, als von den politischen Optimisten im Finanzministerium vorhergesagt. Und vom strikten Sparkurs der Regierung ist zumindest zahlenmäßig gar nichts zu sehen. 1996 will die Bundesregierung insgesamt 13,4 Milliarden Mark weniger ausgeben als im letzten Jahr. Bis Juli hat sie erst 2,9 Milliarden Mark eingespart – und dies, obwohl in Bonn schon seit dem Frühjahr eine Haushaltssperre gilt. Hermann-Josef Tenhagen