Es kommt alles zurück

Zu Caribous, Tölpeln und Walen in Quebec: Ausflug ans Ende der Welt, wo die schönsten Denkmale die natürlichen sind  ■ Von Julia Kossmann

Paar Tage ans Ende der Welt? Nur ein paar Stunden Flug nach Montréal, von dort noch zwei nach Mon Joli und einige Stunden die Küste am St. Lorenz-Strom längs, schon bist du am „Ende der Welt“, wie „gaspeg“ besagt, der ursprüngliche amerindianische Name der Halbinsel Gaspésie, des auf der Landkarte gewissermaßen entspannt wirkenden Zipfels der größten kanadischen Provinz, Quebec, im Lorenz-Golf.

Was immer von diesem Ende der Welt auf das Meer hinausgeschwommen oder geflogen war, kehrte wieder nach gaspeg zurück, wie die Micmac, die auch heute auf der Gaspésie leben, erzählten – bevor 1534 der französische Seefahrer Jacques Cartier hier nahe des heutigen Städtchens Gaspé an Land ging. Zu Ehren und zur Bereicherung seines Königs Francois I. markierte er es mit einem Lilien-Fähnchen und damit den Beginn der Geschichte des relativ jungen Staates Kanada.

Weit aufs Meer reicht der Blick an jedem Punkt der gut 1000 Kilometer langen Gaspésie-Küste, deren vom Meer blankgelutschte Granitschären an Norwegen jenseits des Atlantiks erinnern. Queécois, Micmac, Anglokanadier und Einwanderer aus allen Teilen der Welt leben auf der Halbinsel mit dem fast gespenstisch klingenden Namen. Leute von meist freundlicher bis spröder Art, die allemal interessiert sind, die Neugier vorbeiziehender Touristen zu wecken und zu nähren. Wobei sie gerne auf die vielfältigen, höchst sensiblen Mikroklimata der Peninsula hinweisen, wo schon die kleinste Felsvertiefung einem wärmebedürftigen Blümchen Heimat gibt.

Zu finden sind diese auch am Mont Jacques Cartier, mit 1268 Metern der zweithöchste Berg Quebecs. Mit etwas Glück sind hier Caribous zu sehen, und mit noch etwas mehr Glück lernt man eine streng national fühlende Naturschützerin kennen: Erläuterungen gibt sie zu Caribous und dergleichen Naturwundern ausschließlich und generell nur auf französisch, schließlich befinde man sich ja in einem „National“-Park.

Die beeindruckendsten Denkmale, die die Leute auf der Gaspésie am liebsten vorzeigen, sind in der Natur zu finden. Nur hier und da sind Zeugnisse menschlicher Kultur in den Naturschutzzonen übrig geblieben: Im Forillion-Nationalpark bergen die verlassenen Holzbauten der Nachfahren der ersten Fischer gut 100 Jahre kanadischer Alltagsgeschichte. „Es gibt hier auch noch einen Friedhof, wo noch die beerdigt werden, die hier mit ihren Verwandten gelebt haben“, erzählt Maxime St-Amour. Vor 26 Jahren war der Endvierziger der erste Mitarbeiter des Forillion-Parks an der östlichen Spitze der Gaspésie und ist mittlerweile Direktor. Eingriffe in die Natur am Ende der Welt nimmt er deshalb trotzdem nicht vor. Die Gruppen der Elche, Biber, Seehunde verändern sich ständig, wachsen, schrumpfen, erzählt er. Und genauso verständnisvoll wie lehrreich er die ParkbesucherInnen herumführt oder ihnen unter Wasser lebende Seegurken und -sterne präsentiert, genauso dezent hält er jeglichen Eingriff von dem nur 240 Quadratkilometer großen Park fern.

Von hier aus starten auch die Schnellboote, die Gruppen von etwa 30 Touristen zum „Whale-watching“ hinausbringen. In einen langen Ölzeugmantel vermummt geht's mit 35 Knoten Geschwindigkeit raus auf den Lorenz-Strom, der wegen seines Fischreichtums im Laufe des Jahres von einem Dutzend verschiedener Walarten passiert wird. Daß immer mehr tote Meeressäuger aller Arten an die Küsten Quebecs angeschwemmt werden, verschweigt unser Wal-Zeremonienmeister Jacques an diesem Tag.

Im Städtchen Percé schmiegen sich malerisch Restaurants und aus Holz gebaute Motels entlang des Strandes, die Zimmeraussichten beinahe auf den ganzen Tageslauf der Sonne – genauer: den Dreh der Erde – bieten. An norwegisches Nightfever auf dem Lande erinnert hingegen samstagsnachts die ausgelassene Stimmung auf der Promenade von Percé. Techno wummert aus Discos und Cabrios, Reifen quietschen in dem einstigen Fischerdörfchen, das am Tage in der brüchigen Anmut seiner jahrzehntelangen Tradition als Sommerfrische ruht.

Vor Percé erheben sich die zer-klüfteten Vogelklippen der Ile Bonaventure. Ein Ausflugsdampfer-Katamaran setzt die zeitweilig zivilisationsflüchtigen NaturentdeckerInnen von heute über auf die gut viereinhalb Quadratmeter große Insel, vor der sich wegen des Fischreichtums Seehunde und Wale tummeln. Von Ende April bis Anfang Oktober zelebrieren hier aber auch etwa 60.000 Tölpel ihre alljährlichen Schnäbel- und Fortpflanzungsrituale. Um der Liebsten aber einen leckeren Happen fischen zu können, braucht es einige Windstärken, damit die drei bis vier Kilo schweren Vögel abheben und auf die ihnen eigene, nicht immer elegante Art wieder landen können.

Erst Anfang Oktober gehen die Tölpel auf die Reise nach Florida, sie scheinen wie Forillion-Park-Chef Maxime St-Amour zu wissen, daß die Gaspésie im September das schönste Klima hat – und das auch noch gemildert durch den günstigen Dollarkurs.