„In welchem Land sind wir denn hier?“

■ Landausflüge gehören zur Kreuzfahrt: Immer der Kelle des Reiseleiters nach

oris bleibt an Bord. Die überzeugte Kreuzfahrerin hat mit Landausflügen nicht viel im Sinn. „Es ist wunderbar leer an Deck, wenn alle weg sind“. Die meisten Passagiere der „Astor“ stehen allerdings schon gestiefelt und gespornt am Ausgang, als der „letzte Aufruf für den Ausflug Nr.632“ durch den Kabinenlautsprecher in den Tiefschlaf dringt. Denn: Landausflüge sind das Salz in der Kreuzfahrt-Suppe – besonders, wenn das Zielgebiet die Ostsee und die Häfen „Städte mit Vergangenheit“ sind.

„So leicht komme ich doch sonst nicht in die alte Heimat“, erzählt der Herr aus Düsseldorf. Er meint Königsberg, Kaliningrad. Ende 1995 war das militärische Sperrgebiet im Marinehafen Pillau aufgehoben worden. Doch für Trips in die persönliche Geschichte bleibt keine Zeit: die dem Erdboden gleichgemachte Innenstadt mit Domruine und Kant-Denkmal, Orgelkonzert, Bernsteinmuseum, immer hurtig. „Ich war ja schon mal hier und habe meine alte Straße gesucht. Es steht nur noch meine Schulturnhalle. Da haben die Russen ein Kino reingebaut“, erzählt der Mann.

Einen Tag zuvor, in Danzig, war es einfacher. Dynamische Menschen wie der Unternehmer aus Delmenhorst haben sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Haus der Großeltern machen können. „In Polen ist das ja auch schon besser organisiert“, so das Fazit.

Nicht alle sind so gut im Bilde. „In welchem Land sind wir hier“, fragt eine Dame am Grab des weisen Kant. Sie muß sich aufklären lassen: Früher nördliches Ostpreußen, jetzt Exklave der russischen Föderation. „Das habe ich ja noch nie gehört“.

Zum Glück gibt es die Reiseführer, die ihre Kellen mit „MS Astor, Bus 8“ in die Höhe recken und so auch die letzten verirrten Schäfchen hinter sich her durch die Touristenmengen lotsen. Nur manchmal geht jemand verloren. Wie in Nidden, Thomas Manns Feriendomizil am Kurischen Haff, heute Litauen und Programmpunkt beim Landausflug von Klaipeda, einst Memel.

„War die Frau verwirrt?“ fragt die deutsche Reiseleiterin etwas besorgt, als die Dame nach dem 20minütigen Freigang durchs Fischerdorf überfällig ist. „Ins Wasser gefallen? Herzanfall?“ munkelt es durch die Sitzreihen. Die Temperaturen im stehenden Bus acht übersteigen die 30-Grad-Marke. „Losfahren“, fordert ein resoluter älterer Herr aus Osnabrück. „Soll die doch ein Taxi nehmen. Frechheit sowas.“

Irgendwann taucht die Alte wieder auf. Sie wollte ganz einfach mal im Bus sechs mitfahren und hatte nicht bedacht, daß solche Spontaneität das minutiös geplante Landausflugs-Abenteuer durcheinander bringen kann. Für die spektakuläre Große Düne sind nur noch 15 Minuten übrig. „Wir haben aber eine halbe Stunde gebucht“, mault ein Schwabenpaar. Und auch das abschließende Bad am weißen Strand der Nehrung darf zehn Minuten nicht überschreiten. Die Fußkranken bleiben im Bus sitzen. Den Weg über die Düne schaffen sie nicht in der Zeit.

Zum Schluß dann noch zehn Minuten Marktplatz von Memel. Ännchen von Tharau in Bronze anschauen, die der unglücklich verliebte Dichter Simon Dach im Volkslied unsterblich machte. Kaum biegen die Busse mit den Kreuzfahrern um die Ecke, erklingt süßer Gesang: Der hübsche blonde Junge weiß, was Schnelltouristen-Herzen wünschen. Video-Kameras haben ja heute auch schon Ton.

Joachim Fahrun