Darf's noch ein Cocktail mehr sein?

■ Mit der MS Astor auf Kreuzfahrt ins Baltikum: 315 Besatzungsmitglieder kümmern sich um 500 Passagiere

ie Deutschen sind die schwierigsten Gäste“, sagt der Food & Beverage-Manager der MS Astor, Arno Ahrends. Er müßte es wissen. Schon seit acht Jahren sorgt er dafür, daß Kreuzfahrtpassagieren nicht die Cocktails ausgehen, wenn sie auf dem Sonnendeck im Liegestuhl dösen, und dafür, daß genügend Rinderfilets in den Kühlräumen des Schiffes sind. Auf der MS Astor wollen 500 Passagiere verpflegt werden. Verpflegt? Besser: Verwöhnt. Schließlich hat man eine sechstägige Schiffspassage gebucht, von Kiel über Danzig und Königsberg nach Litauen und zurück. Und zwar „all inclusive“. Die neueste Marketingstrategie der Tourismusbranche ist allzu verführerisch. Frühstück, Menü mittags und abends, Büffet und ofenwarme Sandwiches als Betthupferl – im Preis drin. Dazu eine umfangreiche Getränkekarte – vom Bier bis zur „Bloody Mary“ –, die geplündert werden will. Und weil deutsch sein bekanntlich heißen kann, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, stöhnen die Keeper an den diversen Bars der MS Astor über die Systematik, mit der sich so mancher Passagier durch die Karte trinkt. Nicht daß gegrölt würde auf dem Sonnendeck, in der Kalinka- oder Tschaikowsky-Bar; nein. Bloß reißt die Schlange vor dem „Lido“, wo die Drinks gegen Unterschrift und Zimmernummer ausgeschenkt werden, einfach nicht ab.

Eine reine Seniorenveranstaltung ist die Fahrt mit der MS Astor, dem gediegenen, übersichtlichen Kreuzfahrtschiff, Baujahr '87, nun auch nicht. Da sind zum Beispiel Ingo und Annett aus Thüringen, frisch verheiratet. Zur Hochzeitsreise haben sich die beiden Mittzwanziger mal etwas Besonderes gönnen wollen. „Das glaubt uns keiner zuhaus“, meint Ingo, die umfangreiche Menükarte mit den zahlreichen Zwischengängen in der Hand. Und deshalb packt er die Karte, als Beweisstück für die Daheimgebliebenen, gleich ein. Oder die fidele Reisegruppe aus Delmenhorst, die sich Nacht für Nacht bei Sven im Pub trifft, dann, wenn alle anderen Bars schon geschlossen haben. Mit schönster „Was kostet die Welt?“-Attitude lassen die Delmenhorster Ehepaare im „besten“ Alter die Drinks insich hineinlaufen. Denn: die Welt kostet hier gar nichts!

Die Welt: Das ist das Restaurant Odessa, wo das ukrainisch-russische Service-Team mit lieblichstem Lächeln und an die Tageslosung angepaßtem Dress („Hollywood-Soirée, „Captain's Dinner“, etc.) die Gäste empfangen; das ist Entertainer Markus Felden, der mit seidig-sonorer Kuschelstimme des Abends den Gummimenschen, die Travestiekünstler und das „All Star Ballet“ conferiert, während ein Deck tiefer in Clubsessel-Atmosphäre die blonde Britin Karen Newby am Piano Zuckersüßes („Das ist auch auf meiner CD“) singt.

Und einsam wacht Kapitän Vladimir P. Yamikov auf der Brücke. Einsam? Nicht ganz. Vier Leute halten ständig Wache auf der Brücke, während das Schiff auf der spiegelglatten See seinen Kurs verfolgt. Der Steuermann steuert, ein zweiter Offizier hat den Radarschirm im Blick. Schön anzusehen, wie die große runde Mattscheibe blinkend vor Untiefen warnt, wie Schiffsbewegungen im Umkreis von 100 Seemeilen als freundliche Linien dargestellt werden. Ist der Zielhafen eingegeben, könnte die MS Astor theoretisch allein zum Ziel finden. Trotzdem: Hinter der High-Tech, im hinteren Teil der Brücke, liegen Seekarten ausgebreitet, Zirkelkreise sind darauf zu erkennen. Noch immer wird die Position des Schiffes auch von Hand bestimmt, nach dem Sonnenstand. Dritte Maßnahme gegen Havarie: ein russisches goldenes Heiligenbild, aufgehängt zwischen Wimpeln und Seekarten.

Bloß ein Summen ist auf dem Vorderdeck zu hören, wenn das Schiff durch die See pflügt – und das Rauschen des verdrängten Wassers und der Wind. Kein Licht weit und breit. Zeit, um sich Fragen zu stellen, was denn das Besondere an einer Kreuzfahrt ist. Die stellt sich Kreuzfahrt-Chef Dierks auch dauernd. „Motivationsforschung im Tourismus ist sehr schwierig. Wir wissen nur, daß das Reiseziel eine ebenso wichtige Rolle bei der Urlaubsentscheidung spielt wie die Tatsache, daß die Bordsprache Deutsch ist.“ Oft wüßten die Passagiere selbst nicht rational zu erklären, was sie nun dazu gebracht hat, durchschnittlich 2.500 Mark in eine Kreuzfahrt zu investieren. Die TV-Serie „Traumschiff“, da ist sich Dierks sicher, ist es jedenfalls nicht. Jene feudale hochseetüchtige Ränkeschmiede schrecke die Leute eher ab. Ärger hat man zuhause eh' schon genug.

Was dann? Unter Fanfarenstößen und großem Hallo den lichtdurchfluteten Hafen verlassen, sich abends in Schale werfen („ab 17 Uhr festlich“, heißt es im Tagesprogramm) und, Kaninchenfilet im Munde, durchs Fenster das Meer vorbeiziehen sehen? Eines nebligen Morgens in der Glückskabine aufzuwachen und – aus dem Nichts – die Hafeneinfahrt der Danziger Bucht auftauchen zu sehen und sich zu entscheiden: Mache ich den Landausflug mit (vgl. unten) oder bleibe ich faul an Bord? Das „Markieren“ und damit Reservieren des Liegestuhls mit dem bordeigenen blauen Badetuch?

Diese Wahl hat die Küchenbrigade nicht. Die 41 Leute, die auf den tieferen Decks, den Passagieren wohl verborgen, in riesigen Suppenkesseln rühren, Kartoffeln schälen oder Desserts portionieren, sieht man allenfalls mal kurz mit einer Zigarette an der Reling stehen und ins Weite schauen. Angeleitet werden sie vom östereichischen Küchenchef Günther Weber, einem kleinen flinken Mann, der das Labyrinth im Bauch des Schiffes genauso gut kennt wie seine Kabine. Was ihn, der den Charme des Kreuzfahrens nur aus der Kellerperspektive kennen muß, mehrere Monate lang in den Küchentrakten der MS Astor bleiben läßt? Parat hat er dafür keine Erklärung; schiffig ist man oder ist es nicht.

Schiffig waren an Bord die meisten, wenn auch bloß für sechs Tage. Eine Dame konnte kein Auge zutun, weil das Motorengeräusch sie vom Schlafen abhielt; für eine andere war der Pool „erledigt“, weil zu warm und nur halbvoll; ein älterer, leicht vergeßlicher Herr dachte an einen Beschwerdebrief an den Veranstalter: Man hatte ihn nach seinem Reisepaß gefragt, obwohl er den doch an der Rezeption abgeben mußte. Doch das hatte er vergessen. Warum hatte ihm das keiner gesagt?

Lappalien. Ein gewisses Konquistadorengefühl herrschte eindeutig vor unter den Passagieren. Hatte man nicht die Welt gesehen und sich luxuriös umsorgt gefühlt? War man nicht ein bißchen was Besseres, wenn man hoch oben auf der Reling runterschaute auf die kleinen Menschlein an Land und an den Zug der Millionen dachte, die – schnöder Tourismus – ihr Reiseziel mit dem Auto oder Flugzeug erreichen?

Ja, das könnte es sein. So gemächlich wie majestätisch passieren wir den Nordostsee-Kanal, 100 Kilometer schaffen wir in einer Nacht. Eine letzte Runde im Pool vor der Ausschiffung. Dann lädt die MS Astor erst mal Bier, Proviant für die nächsten dreieinhalb Monate. Ob das reicht? Es wird, denn noch in diesem Jahr wird das „all inclusive“-Konzept wieder abgeschafft. Warum, läßt sich denken.

Alexander Musik