Wildnis und endlose Weite

Auf das Wetter ist in der wohltuenden Leere der patagonischen Seenlandschaft kein Verlaß. Mit dem Rucksack unterwegs im südchilenischen Nationalpark Torres del Paine  ■ Von Peter Wittmann

Der uniformierte Beamte hinter der museumsreifen Schreibmaschine stellt geduldig immer wieder dieselben Fragen: Name? Nationalität? Paßnummer? Wie lange man bleiben, welche Route man gehen wolle, ob man alleine oder zu mehreren sei, Wanderstiefel, warme Kleidung, Schlafsack, Kocher und Proviant dabeihabe. Alles wird fein säuberlich notiert, vielerlei Sprachen gehen durcheinander. Englisch, Hebräisch, Deutsch, Holländisch, Französisch. Die wenigen, die Spanisch können, dolmetschen nach Kräften. Endlich, nach Zahlung von 5.000 chilenischen Pesos (umgerechnet rund 20 Mark) und dem eindringlichen Appell, auf die Natur und sich selbst sorgfältig achtzugeben, bekommt jeder das obligatorische „boleto“ ausgehändigt – und damit Einlaß in eines der schönsten Naturreservate Südamerikas, den rund 243.000 Hektar großen, im tiefen Süden Patagoniens gelegenen Nationalpark Torres del Paine.

1978 wurde die seenreiche Steppenlandschaft um das gleichnamige Bergmassiv von der Unesco zum „Biosphären-Reservat“ ernannt. Und von Jahr zu Jahr steigt die Zahl derer, die die weite Anreise hinunter zum Südzipfel des südamerikanischen Kontinents auf sich nehmen, um auf Schusters Rappen die unberührte patagonische Wildnis zu erkunden. Im Hochsommer der Südhalbkugel, von November bis Februar, kann es da in den wenigen Unterkünften und auf den einfachen Zeltplätzen schon einmal eng werden. Dennoch, wer hier die Einsamkeit sucht, der wird auf keinen Fall enttäuscht. Zwar darf sich hier jeder nach Lust und Laune bewegen, doch sollte man die Hinweise der Parkverwaltung tunlichst beherzigen. Denn in kaum einer anderen Region der Erde ist das Wetter derart launisch wie in den winddurchfegten patagonischen Bergen, wo oftmals alle vier Jahreszeiten im Laufe eines einzigen Tages wechseln. Nicht zuletzt wegen der unkalkulierbaren Witterungsumschwünge gehören die schroffen Paine-Gipfel zu den größten Herausforderungen für rekordsüchtige Kletter-Freaks. Aber auch andinistisch weniger ambitionierte Naturliebhaber kommen hier auf ihre Kosten. Je nach individueller Reiseplanung reichen die Möglichkeiten vom eintägigen Kurztrip per Bus oder pedes bis hin zum circuito, der Umrundung des gesamten Bergmassivs, für die man sich mindestens eine Woche Zeit nehmen sollte.

Von einem Rudel hochmütig dreinschauender Guanakos beäugt, schultern wir die Rucksäcke und machen uns bei strahlendem Spätsommerwetter auf den Weg. Unser erstes Ziel sind die „Torres“, knapp 3.000 Meter hohe, wie gigantische Fangzähne aus der patagonischen Ebene aufragende Granittürme, die aus der Ferne ein wenig an die italienischen Dolomiten erinnern. Zwischen hüfthohen Trockensträuchern hindurch windet sich der schmale Pfad langsam, aber stetig bergauf, vorbei an niedrigen Baumgruppen, deren deformierte Kronen an den stürmischen, vorherrschend westlichen Winden keinen Zweifel lassen. Bis auf das rhythmische Knarren der Schulterriemen und den gelegentlichen Ruf eines Raubvogels unterbricht kaum ein Laut die Stille. Ab und zu huscht ein aufgeschreckter Pampafuchs über den steinigen Weg. Von den hier ebenfalls heimischen Pumas bekommen wir keinen zu Gesicht, die geschmeidigen Großkatzen sind überaus scheu – und wir darüber nicht allzu unglücklich. Nach gut zweistündigem Marsch erreichen wir das Hostal „Las Torres“, eine von drei Nobelherbergen im Park, die vornehmlich von gutbetuchten Nordamerikanern frequentiert werden. Von hier ab wird der Weg merklich steiler. Deutlich zeichnen sich die Spalten und Risse des nahen Nieto-Gletschers ab – bis rasch auflebende Windböen bedrohlich aussehende Wolkenpakete gegen die Bergflanken drücken.

Im Nu hüllt sich die eben noch sonnenüberstrahlte Landschaft in undurchdringliches Grau, aus dem heftige Regenschauer niederprasseln. Es wird empfindlich kalt. Bald ist außer der sprichwörtlichen Hand vor den Augen kaum mehr etwas zu sehen. Schweren Herzens geben wir unser Vorhaben auf, bis an den Fuß der fast 2.000 Meter senkrecht aufsteigenden Wände zu gehen, und entschließen uns, ohne die weltberühmten Felsriesen aus der Nähe gesehen zu haben, zur Umkehr.

Bis auf die Knochen durchnäßt, finden wir unweit der Laguna Amalga Unterschlupf in einer primitiven Schutzhütte, die im wesentlichen aus ein paar rohen Bodenplanken, vier dünnen Bretterwänden, durch die der Wind fast ungehindert hindurchpfeift, und einem rostigen Blechdach darüber besteht. Letzteres entpuppt sich während der nächtlichen Regengüsse zudem noch als ausgesprochen löchrig. Kaum hat man sich mitsamt Schlafsack robbenderweise ein vermeintlich trockenes Plätzchen erobert, zwingen weitere, just an dieser Stelle durchs Wellblech rinnende Wasserfäden zu erneuten schlafraubenden Positionswechseln. Dennoch gehen die Stunden irgendwie vorüber, und als wir im ersten Morgenlicht einen prüfenden Blick nach draußen werfen, wollen wir zuerst unseren Augen nicht recht trauen: Über Nacht hat es kräftig geschneit! Zu unserer Erleichterung dauert es nicht lange, bis der Schnee unter den wärmenden Strahlen zumindest in den tieferen Lagen dahingeschmolzen ist.

Am frühen Vormittag nehmen wir den täglich verkehrenden Pendelbus zum Lago Pehoé, wo ein für den Personentransport umgebauter Fischkutter wartet. Bis die Nußschale ablegt, ist noch ausreichend Zeit für einen kurzen Abstecher zum Salto Pehoé, wo graublaue Schmelzwassermassen mit mächtigem Getöse über eine rund vierzig Meter hohe Felsstufe zu Tal stürzen. Nach einstündiger Bootsfahrt mit atemberaubenden Ausblicken auf die cuernos, deren konisch zugespitzter Gipfel an überdimensionale Stierhörner erinnert, machen wir am gegenüberliegenden Ufer des smaragdgrün schimmernden Sees fest.

Ein kurzer Fußmarsch führt durch sumpfiges Gelände auf eine baumbestandene Anhöhe oberhalb des Lago de Grey, einem schmalen, langgezogenen Gletschersee, in dem hausgroße Eisbrocken wie Märcheninseln vor den dichtbewaldeten Ufern treiben. Am Fuße des 3.248 Meter hohen Cerro Paine Grande passieren wir auf holprigem Weg kleine, wassergefüllte Felswannen, schlängeln uns durch flechtenbehangene Südbuchenwäldchen, waten durch vermoorte Senken und balancieren über riesige Geröllbrocken durch ausgetrocknete Bachbetten, die sich während der Schneeschmelze im Frühjahr in reißende Wildwasser verwandeln.

Ein paar Wegbiegungen weiter weht uns ein eisiger Windhauch entgegen. Kurze Zeit später taucht in der Ferne der glitzernde Abbruch des Grey-Gletschers auf, dessen bläuliche Eismassen sich durch windzerzauste Wälder bis an den See schieben. Nach kurzer Rast nehmen wir die letzte Etappe in Angriff und gelangen bei tiefstehender Sonne zum Refugio Grey. Am nächsten Tag machen wir uns in Richtung Garner-Paß auf. Die Route führt oberhalb des tief zerklüfteten Grey-Eisstroms entlang, einem kilometerlangen Ausläufer des riesigen südpatagonischen Inlandeises. Obwohl sich das Wetter heute von seiner besten Seite zeigt, glauben wir von Ferne ein Gewitter zu hören. In unregelmäßigen Abständen zerreißt ein scharfer Knall die Luft, gefolgt von einem langgezogenen dumpfen Poltern. Beim Abstieg werden wir eines Besseren belehrt. Gebannt verfolgen wir, wie sich – zunächst kaum wahrnehmbar – ein gewaltiger bläulicher Eisbrocken von der schrundigen, rund 30 Meter hohen Gletscherstirn wegneigt, im Zeitlupentempo vornüberkippt und schließlich laut krachend in den See stürzt. Der mächtige Aufprall läßt ringsum glitzernde Gischtfontänen aufschießen. Gurgelnd und zischend wälzt sich der eisige Koloß noch eine Zeitlang im aufgewühlten Wasser und pendelt sich gravitätisch auf seinen Schwerpunkt ein – dann ist das eindrucksvolle Spektakel vorüber.

Gut 25 Kilometer in den müden Beinen, quartieren wir uns für die letzte Übernachtung im Park in einem Refugio am Westufer des Pehoé-Sees ein.

Am nächsten Morgen liegt der Schnee wieder bis tief unten. Zusammen mit einem japanischen Ehepaar und einem australischen Globetrotter machen wir uns in der Morgendämmerung fröstelnd auf den Weg. Die Paine-Gipfel allmählich hinter uns lassend, geht es ohne größere Steigungen abwechselnd durch weitläufige Ebenen und offenes, hügeliges Gelände. Windstöße treiben sanfte Wellen über die in warmen Gelbtönen changierende Grassteppe. Hoch über unseren Köpfen kreisen zwei Kondore auf der Suche nach Aas. Mit elegant abgespreizten Handschwingen lassen sich die majestätischen Flugkünstler ohne einen einzigen Flügelschlag von den beständigen Aufwinden durch die Lüfte tragen.

Bald hat man das richtige Schrittempo gefunden, und es dauert nicht lange, bis sich unser kleines Grüppchen weit auseinandergezogen hat. Es scheint fast, als ob jeder die wohltuende Leere der Landschaft eine Weile für sich alleine genießen wollte. Der amerikanische Reiseschriftsteller Paul Theroux brachte die Eigenart dieser entlegenen Gegend mit dem Bild von der „winzigen Blüte in endloser Weite“ auf den Punkt. „Patagonisches Paradox“ nannte der Bruce-Chatwin-Freund und Patagonien-Liebhaber den Gegensatz zwischen dem Riesigen und dem Winzigen. Alles ordnet sich in diesen Maßstab ein, dazwischen gibt es hier nichts. Vielleicht macht gerade das die patagonischen Landstriche so reizvoll.

Reiseführer: Bruce Chatwin: „In Patagonien. Reise in ein fernes Land“. Rowohlt Taschenbuch, 12,20 DM

Michael Möbius/Annette Ster: „Patagonien mit Feuerland“. Regenbogen Reiseführer Stromer. Konstanz 1995

Marco Polo: „Feuerland mit Patagonien“. Mairs Geographischer Verlag. Ostfildern, 2. Aufl. 1995, 12,80 DM