Unter unerlaubt schönem Mond

Auf der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz wurde Peter Michael Hamels Oper „Endlösung“ uraufgeführt – „Stationen für Orchester und Theatergruppe“, die jeweils verdreifacht an Aspekte des Holocaust erinnern  ■ Von Sabine Zurmühl

Ein Vollmond, der für zwei Caspar David Friedrichs reicht. Ein Gemäuer, ein Ort, furchterregend in seiner Masse, aggressiv und gewalttätig: die Feste Ehrenbreitstein über Koblenz. Einschüchternd also mit ihren Glacis, ihren senkrecht aufragenden, meterstarken Mauern, den unübersichtlichen Rundgängen, in denen Menschen verschluckt werden und innerhalb einer Sekunde nicht mehr zu hören sind. Das Ehrenmal des Heeres ist dort mit riesigem Eisernen Kreuz zu sehen und vor der Südseite eine Opferschale, an der das „Regiment 28“ seiner Gefallenen zwischen 1815 und 1918 gedenkt.

Und gleichzeitig ein Ort von großer Poesie, ein Ort, an dem die Pflanzen in lichter Höhe von 15 Metern aus der alten Mauer sprießen, Steine, jeder anders in Form und Färbung, und Kastanienbäume, die symmetrisch den Innenhof schmücken. Auf der Rundbrüstung das Orchester...

Der Komponist Peter Michael Hamel und das Teatret cantabile 2 in der Regie von Nullo Facchini haben einen Abend gestaltet, dem sie den Titel „Die Endlösung“ gaben und der auf lauterste und integerste Weise an seiner guten Absicht scheiterte.

„Klangzustände“ in „Schmerzräumen“

Seit Jahren schon hat der Komponist Hamel (Jahrgang 1947, Soziologe, Psychologe, Theatermusiker, Gründer der Gruppe „Between“) den Plan und den Wunsch gehabt, sich mit der Thematik der Shoah, der Judenvernichtung, des jüdischen Traumas zu befassen. Er hat nun ein Werk entwickelt, das er „Klangzustände“ nennt, die er in „Schmerzräumen“ aufführen möchte, oft zarte, klagende, schwirrende Musik, der Harmonie zugeneigter als den schrillen Tönen, lyrisch fast, unter Verwendung von Sprechgesang und elektronischen Geräuschen.

Als dramaturgische Form hat der zwar „nicht kirchliche“, aber durchaus christliche, fromme Musiker die Passion gewählt, die zwölf Stationen des Kreuzwegs. Die Stationen tragen Namen wie „Judenrein“, „Die Deportation“, „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ und so weiter. Nach Texten von Ruth Klüger, Nelly Sachs, Gerhard L. Durlacher, nach also wunderbaren, strengen, ehrlichen, Tränen in die Augen treibenden Texten hat Hamel seine Musik geschrieben.

Aber.

In Weiterführung einer sehr erfolgreichen Zusammenarbeit mit dem dänischen Teatret cantabile 2 wurden die einzelnen Texte oder Anmutungen und Assoziationen dieser Texte in Körper-Gruppen- Sprache übersetzt. Es wird, auf höchstem professionellen Niveau, der Schmerz gespielt, von dem schon der Text und die Musik sprechen, die Brutalität getanzt und symbolisch nahegebracht, von der in Gedichten der Überlebenden die Rede ist, die Angst gezeigt, das Wegrennenwollen, das Gepeinigtwerden, das Wie-die-Hasen-gejagt-Werden. Die Mitglieder der Truppe, in graue, zerschlissene Gewänder gehüllt, tänzerisch und pantomimisch brillant, führen die Zuschauer jeweils an einen anderen Ort der verzweigten Festung.

Man sieht Koffer über Brüstungen fallen, stilisierte SS-Männer an Haaren zerren, ein Schäferhund beißt zu, immer wieder das Motiv der Demütigungen und körperlichen Attacken. Über drei Bildebenen gewissermaßen werden wir mit Aspekten des Holocausts konfrontiert. Musik, Texte und Körpertheater illustrieren sich gegenseitig, eine Doppelung, Verdreifachung, eine überbordende Menge an Signalen und gewünschten Verstörungen, die überfordern muß und abstumpfen läßt, wo sie sensibilisieren will. Die Besucher lassen sich bereitwillig und ein bißchen feierlich-verklemmt führen, sie sind zur Andacht bereit und wenden die Köpfe zum Güterwagenkasten, aus dem sich acht Tänzer quälend herauswinden, zum grasbewachsenen Mauerrist, auf dem ein Text über Selektion von Ruth Klüger gespielt wird, zur Länge des Glacis, vor dem die Häftlinge in den Wasserwerfer rennen und „abgespritzt“ werden, auf die Terrasse, auf der sich zwei SS-Leute mit Puder „reinwaschen“... Zuviel, zu lange.

Und über allem ein schmelzender, unerlaubt schöner Vollmond.

Die Tatsache der Judenvernichtung ist nicht mehr neu zu entdecken. Wir sind politisch längst in eine Auseinandersetzung gezwungen, die die Erfahrungen eines jüdischen Überlebenden wie Klemperer mit seinen beklemmenden Alltagsschilderungen zu verstehen hat, in der die Goldhagen-These von den „Willing Executioners“ aufregt, die politisch zur Voraussetzung hat, was dieser Abend erst zu erreichen trachtet: die fundamentale Einsicht in die Schmach, die Brutalität, die Gräßlichkeit der Judenverfolgung.

Was geschieht in Menschen, die ihre ganze künstlerische Potenz, ihr Engagement, ihre Phantasie und ihre Lebenskraft in Bilder von zerschmetterten Babyköpfen, aufgeschlitzten Häuten, urintrinkenden Häftlingen, gaserstickten Leichenbergen münden lassen?

Eine Selbstverletzung, die sühnen möchte

Hamel verwendet an einer Stelle den Begriff des Purgatoriums, des Fegefeuers, der unendlichen, quälenden Strafe, die mit der „Endlösung“ verbunden sei. Die fundamentale Konfrontation mit dem Schlimmsten, dem Heftigsten, dem Verletzendsten reizt aus, wo vielleicht der Blick auf das Unsensationell-Zerstörende dringlicher wäre, und bedeutet auch eine Selbstverletzung, die sühnen möchte und doch in aufgesetzte Kultivierung von Mitleid umschlagen kann.

Es geht ja nicht um historischen Nachhilfeunterricht.

Die Theatergruppe Teatret cantabile 2 hatte ihre klarsten und eindrucksvollsten Momente, wenn sie ihre Folteropferidentifizierung einmal nicht in heftige Körperaktivität umsetzte, sondern übersetzte, ja endlich auch einmal ruhige, statische Bilder fand, die Ruhe und Konzentration und Gefühl erlaubten und der Musik zu ihrem Recht verhalfen.

„Die Endlösung“. Von Peter Michael Hamel, Stationen für Orchester und Theatergruppe, aufgeführt auf der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz. Regie: Nullo Facchini, Klangregie: Hamel. Weitere Aufführungen: 31. August und 1. September um 20.30 Uhr