Händel für's Schlachthofpublikum

■ Auch die Bremische Evangelische Kirche schnallt den Gürtel enger. Doch der Kirchenmusiker Tim Günther bringt gleich in zwei Gemeinden neuen Schwung

Zeitzeichen: Noch nie zuvor gab es in Bremen eine KirchenmusikerInnenstelle gleich für zwei Gemeinden. Der Sparkurs, zu dem sich die Bremische Evangelische Kirche (BEK) gezwungen sah, machte es nötig. Seit dem März kümmert sich Kantor Tim Günther um die musikalischen Aktivitäten der Gemeinden Immanuel und St. Stephani. Warum das?

Den schwindenden finanziellen Einkünften antwortete die BEK mit einer Einsparungsforderung von 25 Prozent des Gesamthaushaltes und mit folgenschweren Reduzierungen der hauptamtlichen Stellen. Ganz besonders hart trifft dies natürlich die Gemeinden, die sich gerade über die sogenannten A-Stellen einen überregionalen Ruf im Bereich der Kirchenmusik erworben haben, da diese Stellen mit bestausgebildeten Musikern und Mitteln ausgestattet sind. So St. Stephani, einst mit Landeskirchenmusikdirektor Erich Ehlers und einem stattlichen Sachetat ganz besonders gut bedient.

Als Ehlers 1995 in Ruhestand ging, konnte man für die nun nur noch als „B“ ausgeschriebene Stelle Ulfert Smidt gewinnen, der schon nach einem halben Jahr wieder kündigte, weil an der Marktkirche in Hannover für ihn „A“ winkte. Und nun war auf einmal nicht einmal mehr „B“ zu vergeben, sondern alles aus. „Einen größeren Absturz kann man sich nicht vorstellen“, kommentiert Tim Günther. Wollte man überhaupt weitermachen, waren von Grund auf neue Konzepte erforderlich. Stephani fing an, nach Partnern zu suchen, um das, was in anderen Landeskirchen schon als „Gruppen- oder Regionalkantorate“ praktiziert wurde, erstmalig auch bei der BEK einzuführen.

Mit der Immanuelkirche in Walle stand man sich theologisch und politisch nahe, und der dort tätige nebenamtliche Kirchenmusiker Tim Günther war als ausgebildeter A-Musiker mehr als begierig, die einstmals große Chortradition in Stephani weiterzuführen. Konkret hieß das allerdings erstmal, wiederaufbauen, denn der Chor war von einer Mitgliederzahl von ehemals 90 auf noch nicht einmal 30 geschrumpft. „Jetzt“, bilanziert Günther stolz, „sind wir wieder fünfzig mit steigender Tendenz“. Seine Stelle, die nur durch eine Anschubfinanzierung durch die BEK und Spenden aus der Gemeinde existiert, wurde für drei Jahre festgelegt. Sein Vertrag blieb im Widerspruch dazu jedoch unbefristet, was einer eindeutigen Willenserklärung für eine Stelle gleichkommt.

Tim Günther ist 1965 geboren und hat kirchliche Chorarbeit in seiner Heimatgemeinde in Bremen Lüssum kennengelernt. „Am Kirchenmusikerberuf reizte mich die Möglichkeit, theologische und politische Arbeit mit Menschen und die Musik unter einen Hut zu bringen“. Studiert hat er in Berlin bei Martin Behrmann, dem Chorausbildungslehrer schlechthin. Tim Günther kommt nun, statt mit unerfüllbaren Forderungen, mit einer Menge von Ideen, um „das geschäftsmäßige Austauschen von Geld und Musik zu durchbrechen“. So hat er das Stephani-Projekt-Orchester gegründet, in dem MusikerInnen spielen, die bereit sind, sich die Abendkasse zu teilen. Es geht ihm ganz bestimmt nicht um Low budget, sondern um ein tragfähiges neues System. „Die MusikerInnen müssen ja gut sein, denn sie organisieren sich ihre Gage sozusagen selbst“. Angesprochen fühlten sich besonders gute Leute „in Examensnähe“.

Der ehemalige Etat von 20.000 Mark schrumpfte auf 3.000, Mark zusammen. Kein Hindernis für Günther, eine elfteilige Konzertreihe anzubieten: „Das spricht sich rum, da gibt's für jeden etwas, und dann trägt sich das selbst. Vielleicht kommt ja auch mal das Schlachthof-Publikum vorbei“. Händels „Messias“, Brahms „Liebesliederwalzer und Zigeunerlieder“, Messiaens „La Nativité du Seigneur“, aber auch Klezmermusik bilden den Kern des beachtlichen Programms. Immanuel, die akustisch und architektonisch hervorragende „Kirche im Stadtteil“, in der schon immer eher kleine, ausgefallene künstlerische Darbietungen stattfanden, zeigt mit Liederabenden, Rezitationen und Wandelkonzerten ein eigenes Profil.

Und die Gottesdienste? Die muß Günther in Immanuel spielen und einmal im Monat in Stephani. Seinem doppelten Pensum – auch in Immanuel gibt es einen Chor und ab demnächst einen Kinderchor – sieht er gelassen entgegen, er liebt das Organisieren ebenso wie die Kunst: „Es wird immer das Wichtigste geben, und das wird dann gemacht“. Am Sonntag geht's los mit einem Trompeten-Orgel-Konzert in St. Stephani. Sicher nicht eben einfallsreich, aber schließlich lautet das Konzept: „für jeden und alle etwas“.

Ute Schalz-Laurenze