"Dafür genieren sich die Leute"

■ Wenn aus Sehnsucht nach Liebe die Objektwahl zuletzt auf das Tier fällt: Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl über Vertrauens- und vertraute Verhältnisse zwischen Menschen und Tieren in seinem semidok

taz: Ihr Film zeigt Menschen, die sich zu ihrer extremen Tierliebe bekennen. Wie findet man solche Leute?

Seidl: Indem ich mir viel Zeit genommen habe. Wir haben Inserate aufgegeben und uns vor allem sehr oft in den Straßen und Parks von Wien herumgetrieben. Dort haben wir die Leute angesprochen. Wie Sie wissen, gibt es gerade in Wien Tausende Menschen, die ständig mit ihren Hunden oder mit anderen Haustieren auf der Straße unterwegs sind. So ist es nicht schwer, Leute zu finden. Wenn mir jemand interessant erschien, habe ich mich mit ihm über eine längere Zeit intensiv beschäftigt. Ich besuchte ihn in seiner Wohnung, erlebte mit ihm Alltäglichkeiten wie Essen, ins Lokal gehen und so weiter. Erst nach und nach kristallisierte sich heraus, wer für den Film wirklich geeignet ist.

Das erklärt aber noch nicht hinlänglich, warum die Leute sich so ungehemmt der Kamera ausliefern.

Ich glaube es liegt daran, daß ich ein so nahes Verhältnis zu ihnen habe. Ich vertraue ihnen, sie vertrauen mir. Ich kenne sie schon lange, wenn wir drehen. Und dann kann ich eine vertraute Situation herstellen, in der alles ohne Hemmungen funktioniert.

Das Tier wird in Ihrem Film als hilfloses Projektionsobjekt für menschliche Sehnsüchte sichtbar. War dieser tierische Standpunkt der Ausgangspunkt für das Projekt?

Ich wollte eigentlich einen Film über die Liebe machen, über die Sehnsucht und über die Einsamkeit von Menschen in der Großstadt. Das Thema Mensch-Tier- Beziehung erschien mir am geeignetsten, diese Verhältnisse darzustellen. Sicher, das Tier ist ein Objekt, das gewisse, nicht befriedigte Bedürfnisse kompensieren muß. Viele Menschen, die allein wohnen, wollen nach der Arbeit ein Lebewesen haben, das sie streicheln und versorgen können, mit dem sie sprechen können. Dazu dienen dann die Tiere, sie sind Ersatzobjekte und müssen herhalten für die Bedürfnisse der Menschen.

Auch in diesem Dokumentarfilm ist die Inszenierung ganz offensichtlich. Warum bauen Sie immer wieder gestellte Standbilder ein, Tableaus der Reglosigkeit?

Das ist mein Stil.

Ist das eine Art Verfremdungseffekt?

Es ist wie ein Foto, vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, etwas ganz intensiv zu bannen.

Die nüchterne Teilnahmslosigkeit Ihrer Methode ist immer wieder als liebloser Voyeurismus interpretiert worden.

Ich mache ja keinen Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Dafür wurde der Begriff „inszenierte Wirklichkeit“ geprägt. Das heißt, meine Darsteller sind Laien, agieren aber manchmal wie Schauspieler. Und das irritiert manche Leute. Sie wollen in feststehenden Kategorien denken und sehen – das ist der eine Grund. Ein anderer Grund ist vielleicht der, daß viele Leute mit diesem Milieu, das ich hier zeige und vorführe, nicht umgehen können, weil es ihnen fremd ist, und weil sie sich vielleicht auch dafür genieren. Deshalb übernehmen sie eine Art Schutzfunktion und sagen: „Das ist der böse Filmemacher, der hat diese armen Menschen, die mit Medien nicht umgehen können, ausgenutzt.“

Der Film hatte Probleme in Österreich. Das Fernsehen, das ihn produziert hatte, wollte ihn nicht zeigen. Lag das allein an den Szenen, die Ihnen den – unberechtigten – Vorwurf einbrachten, Sie würden Sodomie zeigen?

Ich glaube nicht, daß es hier um einzelne Szenen gegangen ist. Ich glaube eher, daß in der Öffentlichkeit das Bild der Mensch-Tier-Beziehung ein sehr heiles Bild ist, das man nicht antasten darf. Mein Film aber zeigt dieses Verhältnis von einer anderen, sehr problematischen Seite. Das wollen die Leute nicht sehen, sie fühlen sich brüskiert und angegriffen. Und das will auch das Fernsehen nicht zeigen.

Wie immer man zu Ihrem Film auch stehen mag, bei jedem Zuschauer werden durch die krasse Darstellung Empfindungen geweckt: Bestürzung, Ekel, Mitleid.

Ich versuche immer, den Zuschauer mit meinen Filmen auch betroffen zu machen. So daß er sich nicht entziehen kann. Im Laufe des Films muß er damit zu tun haben, was er hier sieht und vor allem fühlt. Das finde ich ganz wichtig, daß der Film sein eigenes Leben betrifft. Interview: Knut Elstermann